zurück zur Übersicht
Bundesland
Berlin
Stadt
Berlin
Kategorie
Kampagne & Mobilisierung
Politik
Radverkehr/Infrastruktur
Art
Expert*innen
Yvonne Hagenbach, Lesotre

Yvonne Hagenbach

Ich bin schon immer gern Rad gefahren, ohne den Wegzug aus Berlin als Teenagerin hätte ich vermutlich heute nicht einmal einen Führerschein. Doch zurück in Berlin steckte ich längst fest in der Auto-Mühle und bin auch kurze Wege ohne Nachzudenken mit dem Auto gefahren. Überzeugt hat mich der unübersehbare Zeitfaktor. Wenn ich bedenke, dass ich diese Entscheidung gegen ein privates Auto vor mehr als 15 Jahren getroffen habe, möchte ich mir die Situation heute gar nicht vorstellen. Und weil auch ich damals etwas gebraucht habe, die anderen Optionen zu sehen, wollte ich sie anderen sichtbarer machen.

Erst das System, dann die Menschen

Ende 2015 sah ich einen Aufruf des frisch gegründeten Fahrradfreundlichen Neuköllns, die sich ein Logo wünschten. Als gelernte Grafikdesignerin mit Fahrradleidenschaft war ich sofort dabei. Nach anfänglichen Verständnisschwierigkeiten was den verkehrsplanerischen Sprech angeht, konnte ich sehen, welch ein demokratischer Gestaltungshebel der Zivilgesellschaft zur Verfügung steht. Das war mir keineswegs klar. Kurze Zeit später gründete sich der Volksentscheid Fahrrad Berlin und ich wollte unbedingt dabei sein. Dabei sein, wie Menschen wie ich an so einem fest verankerten System wie dem Auto rütteln. Als Kommunikationswissenschaftlerin fand ich vor allem den Identitätsbezug im Hinblick auf Mobilitätsformen spannend. Mobilität ist heute mehr als Fortbewegung, es ist Ausdruck einer möglichen Zukunft, mit Blick auf die Klimakrise zudem ein politisches Statement. Dennoch ist schon die Wahlmöglichkeit bei der Mobilitätsform eingeschränkt, denn Aspekte wie Verfügbarkeit, Gesundheit und Infrastruktur spielen eine genauso wichtige Rolle wie Ticketpreise und Einkommen. Mobilität ist also auch immer ein Gerechtigkeitsthema.

Nicht Entbehrung, sondern Gewinn

Diese gedankliche Ausrichtung brachte auch einen Wechsel in meiner Arbeit als selbstständige Kommunikationsberaterin und Designerin. Zu Verkehr hat zwar jede*r eine Meinung, aber im Detail ist es ein urdeutsches Thema mit vielen Hürden. Durch meine ehrenamtliche Arbeit habe ich schnell gelernt, dass LSA einfach eine Ampel ist und RiM ein Radstreifen in Mittellage. Und wenn man die Regeln kennt, dann ist Infrastruktur ein sehr spannendes Feld. Die einen sehen das sofort, andere muss man begeistern. Mein Talent ist das Begeistern.

Ich habe den Volksentscheid Fahrrad auf dem Weg zu Changing Cities ehrenamtlich mit meiner kommunikativen Expertise begleitet und dem Verein den ersten visuellen Anstrich gegeben. Als Vorständin konnte ich von 2018–2021 die strukturelle Entwicklung voranbringen, später sowohl als hauptamtliche Campaignerin als auch als Strategin für die digitale Ausrichtung des Vereins. Mit Kampagnen wie #schönerverkehren und #kiezblocks konnten wir Menschen mobilisieren, Perspektiven aufwerfen, ihr Verhalten zu reflektieren oder überhaupt blinde Flecken zu erkennen. So wie es irgendwer mal bei mir tat.

In meinem Beruf, den ich seit 2003 unter dem Label Lesotre® selbstständig ausübe, bin ich ständig gefordert mich in andere Welten einzudenken, aber Mobilität ist und bleibt mir ein Herzensthema. Besonders weil es hier noch so viel Schätze zu heben gibt. Wer die Möglichkeiten gesehen hat, kann sie nicht ungesehen machen. Es ist wie der Versuch Zahnpasta zurück in die Tube zu drücken. Das geht nicht. Und irgendwann werden sich Menschen fragen, wie es sein konnte, dass wir Städte so auf Autos ausgerichtet haben.

Foto: © Philipp Hoffmann, www.instagram.com/philbln