Kottbusser Damm #FaireStraßen

Wer hat Angst vorm Kottbusser Damm?

Ein Kommentar von Yvonne Hagenbach

Der Kottbusser Damm bildet eine Grenze zwischen den Berliner Bezirken Kreuzberg und Neukölln. Er liegt zwischen zwei Verkehrsknotenpunkten, am südlichen Ende verlängert durch die Hermannstraße bis zur Stadtautobahn A100. Damit wird klar, welche infrastrukturelle Bedeutung ihm zukommt. Apropos Infrastruktur: Es handelt(e) sich um eine sechsspurige Straße mit beidseitig zwei Fahrspuren und einer Parkspur sowie einem begrünten Mittelstreifen. Unterhalb der Fahrbahn verläuft die U-Bahnlinie U8 zwischen Neukölln und Reinickendorf. Das in der Gründerzeit entstandene Viertel, das an etlichen Stellen unter Denkmalschutz steht, verfügt über breite Gehwege. Der Radverkehr jedoch oblag dort seit Jahrzehnten allein den Mutigen. Seit zwei Wochen ist alles anders.

Insgesamt gilt die Gegend um den Kottbusser Damm, der bis 1874 noch Rixdorfer Damm hieß, heute wie früher als raues Pflaster. Als 1927 der gleichnamige U-Bahnhof (heute: Schönleinstraße) erbaut wurde, lebten in dieser Gegend hauptsächlich Arbeiter*innen und vor allem die arme Bevölkerung, die so einen direkten Anschluss an die Fabriken im Norden der Stadt erhielten. In den 60er Jahren zogen vor allem Gastarbeiter*innen nach Kreuzberg – noch heute haben etwa die Hälfte der Anwohner*innen türkische Wurzeln. Erst seit Ende der 1990er Jahre fand eine rasante Gentrifizierung am und um den Kottbusser Damm statt. Neben Döner Kebap werden heute vegane Bowls verkauft, BioCompany und Eurogida teilen sich die Kundschaft. Da prallen Welten aufeinander. Gefechte werden nicht selten im Straßenverkehr ausgetragen – es gilt und galt das Recht des Stärkeren.

 

Kottbusser Damm um 1918
Bild: Kottbusser Damm um 1918 (https://www.vaillant.de/21-grad/bewusst-und-sein/digital-detox-ab-ins-kino/)

 

Fahren Sie schnell weiter!

Viele Fahrradfahrer*innen meiden den Kottbusser Damm und diejenigen, die sich darauf trauen, erzählen auf Twitter: „Gewaltfreie Kommunikation mit 2.-Reihe-Parkern auf dem Kottbusser Damm versuchen und grandios scheitern. Das ist mein Berlin im Nieselregen.“ (@amigaberlin) „Heute #KottbusserDamm in #Berlin: ein #Autofahrer versucht, mich von der Spur zu drängen, scheitert – steigt dann aus & haut mir eins auf die Fresse. Die Beifahrerin ruft mir 2mal zu: ‘Fahren Sie schnell weiter.’“ (@MuellerTadzio) Auch das ist Alltag. Wer hier lange lebt, den lässt das (leider) kalt, aber es schwingt immer das Gefühl mit, dass es auch besser ginge, wenn man wollte – z. B. durch getrennte Fahrspuren.

Theoretisch ja

Im April 2017 haben Aktivist*innen des Volksentscheids Fahrrad eine Woche lang eine Kamera mit Blick auf den Kottbusser Damm/Lenaustraße laufen lassen und das Verkehrsgeschehen gezählt. Die Kamera hing übrigens am Fenster einer Büroeinheit, dem Pulsraum, in dem der Volksentscheid während seiner Unterschriftensammlung sein Quartier aufgeschlagen hatte und den bundesweit ersten Radentscheid durchführte – ein ehemals täglicher Weg für viele Ehrenamtliche und gewissermaßen historisch. Von allen Tagen wurden unterschiedliche einstündige Zeitfenster genommen und daraus ein Mittelwert errechnet. Heraus kam, dass die jeweils rechte Fahrspur zu mehr als 90 Prozent der Zeit als illegale Parkspur genutzt wird. Am 1. März 2017 brachte David Hartmann für Bündnis90/Die Grünen den Vorschlag zur Schaffung von geschützter Radinfrastruktur am Kottbusser Damm in die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) ein, worauf am 10. Mai 2017 ein Beschluss folgte. Der Entwurf sah statt der Parkspur eine geschützte Radspur vor. Ein Vorschlag der Aktivist*innen war, die Parkspur auf die ohnehin nicht nutzbare rechte Fahrspur zu verschieben und damit eine durch die parkenden Autos geschützte Radspur zu schaffen. Die Neugestaltung dieser Hassroute vieler Berliner Radfahrer*innen war aber damit noch lange nicht zu Ende. Denn erstmal änderte sich nichts.

 

Kottbusser Damm (2017)
Video: Kottbusser Damm am 10. April 2017 (YouTube)

 

Praktisch nein

Ein halbes Jahr später herrschte noch immer der gleiche verheerende Zustand. Das Mobilitätsgesetz wurde geschrieben und durchlief seine verschiedenen Gesetzgebungsverfahren. Zwischenzeitlich hatte sogar der Bezirk Neukölln, der im Norden eine ähnliche Infrastruktur und Flächenverteilung besitzt, eine Fahrradstraße umgesetzt, die nun an der Grenze zu Kreuzberg im Nichts endete. „Mit der Einrichtung der Fahrradstraße in der Weserstraße haben wir Bewegung in Neukölln, der Senat bewegt sich an der Hasenheide, nur der Kottbusser Damm fehlt noch. […] Beim Radfahren hat man hier nur die Wahl, angehupt oder von aufgehenden Türen getroffen zu werden, weil sichere Infrastruktur fehlt. Es wird Zeit, dass Kreuzberg aufwacht und Frau Herrmann und Herr Hehmke nicht weiter die Verkehrswende verschlafen“, so Yvonne Hagenbach vom Netzwerk Fahrradfreundliches Neukölln in einer Pressemitteilung von Changing Cities vom 22. November 2017. Die Empörung über die Untätigkeit des Bezirks brach sich im November 2017 in Form der Schlafmützen-Aktion Bahn.

 

Aufwachen-Aktion auf dem Kottbusser Damm (2017)
Foto: Norbert Michalke/Changing Cities

 

Aufwachen!

Nachdem der Straßenbelag zwischenzeitlich erneuert, aber für sichere Radinfrastruktur nichts getan wurde, erfuhr das Netzwerk Fahrradfreundliches Friedrichshain-Kreuzberg, dass der demokratisch gefasste Beschluss noch nicht mal bearbeitet wurde. Die politisch verantwortlichen „Schlafmützen“ im Bezirk wurden am 23. November um 12:30 Uhr am Kottbusser Damm wachgeklingelt. Dafür „pollerten“ die Aktivist*innen von Changing Cities selbst einen Teil der rechten Fahrspur ab und positionierten „schlafende“ Stellvertreter*innen für Bezirksstadtrat Andy Hehmke (SPD), Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) und die Berliner Verkehrssenatorin Regine Günther (damals parteilos, heute Grüne). Am 13. Dezember 2017 erhielt Dirk von Schneidemesser, heute Vorstand von Changing Cities, auf seine Einwohner*innenanfrage folgende Antwort: „Ein weiterer geschützter Radstreifen am Kottbusser Damm wird derzeit […] aus finanzieller und personeller Sicht in 2018 nicht umsetzbar sein. Wenn die Evaluation der Pilotvorhaben Hasenheide und Frankfurter Allee in 2018 jedoch positiv sein werden, wäre für den Kottbusser Damm eine Umsetzung ab 2019 möglich.“ Es folgte am 28. Juni 2018 die Verabschiedung des Berliner Mobilitätsgesetzes und 2019 wurden verschiedene Straßen wie bspw. die Neuköllner Karl-Marx-Straße in dessen Rahmen umgestaltet. In Friedrichshain-Kreuzberg wiederum kollidierten weiterhin die Interessen, z. B. als im Mai 2019 die Oberbaumbrücke durch Sanierungsarbeiten teilweise für den Radverkehr gesperrt werden sollte, während der Kfz-Verkehr entgegen den Forderungen des Mobilitätsgesetzes keine Einschränkungen erfahren sollte.

 

Kottbusser Damm - Blumen für Bauarbeiter
Foto: Antje Heinrich/Changing Cities (ja, das ist ein Daumen-hoch)

 

Kreuzberger Nächte sind lang

Aber dann … fingen sie (gar nicht so) langsam an. Vielleicht ist diesem Bezirk die Katastrophe, die Eskalation ins Genom geschrieben. Aber seit der Corona-Krise kann man sich gar nicht so schnell die Augen reiben (und man soll sich ja nicht ins Gesicht fassen), wie man sich fragt, ob man träumt. Es beginnt mit einer sogenannten PopUpBikeLane am Halleschen Ufer. Es folgen Möckernstraße, Gitschiner Straße, Zossener Straße, Petersburger Straße und der Kottbusser Damm – allein in Friedrichshain-Kreuzberg. Viele weitere Bezirke legen nach und schaffen #FaireStraßen, wie es die Petition von Changing Cities sowie ein Bündnis von 35 Radentscheiden in einem offenen Brief ans Verkehrsministerium (BMVI) fordert. Damit wird Berlin, nicht gerade der Shooting-Star unter den fuß- und fahrradfreundlichen Städten, in einem Atemzug mit Bogotá oder New York genannt. Als am 23. April 2020 der Kottbusser Damm seine lang ersehnte (erst einmal provisorische) Radspur erhält, lesen wir auf Twitter: „Die letzten 10 Jahre habe ich hier täglich Angst um mein Leben gehabt, seit heute ist das vorbei!“ (@heikorin). Sein Dank geht an das Bezirksamt und die Senatsverwaltung. DIE ZEIT berichtet: „Blumen für Bauarbeiter, das gab es noch nie in Berlin – jedenfalls nicht von den Fahrradaktivisten und -aktivistinnen von Changing Cities.“ Klar, die Leute vom Straßenbau bringen den Walzer aufs Parkett, damit wir tanzen können. Aber im Ernst: Wir Berliner*innen sind nicht immer gut im Danke sagen, aber dem Anschein nach sitzen da wirklich nicht nur Flitzpiepen in der Verwaltung. Danke.

 

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