Wien_Verkehrsberuhigung 1

Wir brauchen mehr Experimentierräume

Die Stadt Wien gilt international als Vorzeigestadt in Sachen gemeinwohlorientierter Stadtpolitik. Nun möchte Wien das Superblock-Konzept an die Donau holen und testet Supergrätzl“. Ist es eine Best Practice? Ulrich Leth, Forscher an der TU Wien und Mobilitätsaktivist, zeichnet ein differenziertes Bild. Die Fragen für Changing Cities stellte Katharina Schlüter.

 

Ulrich, Du engagierst dich seit zehn Jahren sowohl beruflich als auch privat für die Verkehrswende. Was treibt Dich an?

Mich treibt das Wissen an, dass uns nur noch ganz wenige Jahre bleiben, um die Energiewende und damit auch die Mobilitätswende zu schaffen. Ganz egoistisch möchte ich in einer Welt leben, die nicht von immer häufigeren und stärkeren Dürren, Ernteausfällen, Starkregen, Überflutungen und Verteilungskämpfen um die verbleibenden bewohnbaren Regionen der Welt geprägt ist.

Gerade in der Verkehrs- und Raumplanung wissen wir – und damit meine ich die Wissenschaft – schon lange, welche Maßnahmen notwendig wären, um die Emissionen drastisch zu verringern. Weil Politiker*innen trotzdem oft das Gegenteil von dem machen, was die Wissenschaft empfiehlt, engagiere ich mich auch in mehreren zivilgesellschaftlichen Initiativen, die von der Politik mehr Mut und progressivere Maßnahmen einfordern.

Egal ob städtischer Wohnungsbau oder Open Data (offene Daten): Wien gilt als internationale Vorzeigestadt in Sachen gemeinwohlorientierter Stadtpolitik. Nun wird das Konzept der Superblocks ins Wienerische übersetzt – Supergrätzl sollen entstehen. Wie nimmst Du als Forscher und als Aktivist die Wiener Verkehrspolitik wahr?

Es gibt sehr gute Ansätze in Wien, zum Beispiel die inzwischen weitgehend autofreie Mariahilfer Straße – noch vor wenigen Jahren eine extrem autobelastete Straße. Die Superblocks würde ich bislang allerdings noch nicht als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Der erste Pilot wurde 2020 aus politischen Gründen gestoppt.

Was waren hier die Hintergründe?

Wir hatten uns seit 2017 im Rahmen des Forschungsprojektes SUPERBE intensiv mit der Frage beschäftigt, wie die Superblock-Konzepte auf die Stadt Wien übertragen werden könnten. Nicht zuletzt die Impulse aus diesem Projekt führten zu der ersten Supergrätzl-Initiative in Wien, im 2. Bezirk, der Leopoldstadt. Die damalige grüne Bezirksvorsteherin (entspricht einer Bezirksbürgermeisterin; Anm. d. R.) war begeistert von der Idee. Doch 2020 kam es zu einem politischen Wechsel. Der neue SPÖ-Bezirksvorsteher wollte das von seiner grünen Vorgängerin initiierte Projekt nicht fortführen. Das war schon recht frustrierend …

Welche Rolle nimmt hier die Wiener Stadtverwaltung ein?

Einerseits eine zu schwache, andererseits eine zu starke. Der Magistrat hat im Rahmen des STEP 2025 ein durchaus zukunftsweisendes Fachkonzept Mobilität entwickelt – die Verkehrswende ist hier ein elementarer Bestandteil – das auch politisch im Gemeinderat beschlossen wurde. Allerdings ist der Magistrat bei der Umsetzung auf die Bezirke angewiesen, die hier eine große Eigenständigkeit haben. Für die Verkehrswende dürfte die politische Situation jetzt immerhin günstiger sein: Sowohl das Verkehrsressort wie auch die Mehrzahl der Bezirke liegen seit 2020 in der Hand der SPÖ. Liegt beides in der Hand einer politischen Partei, darf man – völlig unabhängig von der politischen Farbe – auf mehr Sachdiskussion und weniger Blockaden aus politischen Gründen hoffen. Umsetzungen können aber natürlich immer noch an der Angst vor den autoaffinen Wähler*innen scheitern.

Du sagtest, dass der Magistrat aber auch zu stark sei. Was meinst Du damit?

Zwar können die Bezirke verkehrspolitische Maßnahmen des Magistrats blockieren, für die Umsetzung benötigen sie aber wiederum die Genehmigung des Magistrats – und hier agitiert der Magistrat sehr konservativ: Projekte müssen komplett durchgeplant sein, ein Experimentieren ist so kaum möglich. Dies wäre aber gerade bei innovativen Verkehrskonzepten wie den Supergrätzln sehr wichtig.

Nun passiert aber in Sachen Supergrätzl doch wieder was: Im Stadtteil Favoriten im 10. Bezirk wird aktuell ein Superblock pilotiert. Laut Internetseite der Stadt Wien soll das Pilotprojekt „mehr Grün, mehr Freiräume und weniger Verkehr bringen“…

Ja, das stimmt. Das Projekt ist spannend, insbesondere weil der 10. Bezirk sozial sehr durchmischt ist. Das Projekt setzt auf eine umfassende Bestandssanierung auf. Kritisch sehe ich, dass das Projekt mit einem minimalen Budget auskommen muss. Im Fokus steht die Verkehrsorganisation mit Diagonalsperren, Flächen werden kaum umverteilt, die Parkplätze bleiben zum Beispiel während der Pilotphase zum Großteil unangetastet. Bei einem neuen autofreien Platz gibt es nur zwei Bänke und zwei Kisten mit ganz kleinen Bäumen – das sieht in Barcelona komplett anders aus. Auch bei den Pollern wurde gespart: Statt mehreren Pollern wurden auf jede Kreuzung nur ein Poller und eine Bodenmarkierung gesetzt. Die Bodenmarkierungen bringen aber nichts, so dass es nach wie vor Durchgangsverkehr und Schleichwege gibt. Ich mache mir Sorgen, dass dieses Projekt aufgrund der schlechten Umsetzung eher kontraproduktiv auf die öffentliche Meinung zu dem Thema wirken könnte.

Sicher findet doch eine Bürger*innenbeteiligung statt. Wie kommt das Projekt an?

Es gibt noch keine umfassende Auswertung. In den Beteiligungsformaten gibt es positive Rückmeldungen – allerdings beobachten wir, dass viele Verkehrsinteressierte aus ganz Wien und wenig Bewohner*innen aus dem Bezirk an den Formaten teilnehmen. Dies könnte auch an der schon erwähnten durchmischten Sozialstruktur liegen. Es ist schwer, bestimmte Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Neben dem Top-down-getriebenen Projekt im Bezirk Favoriten gibt es aktuell noch zwei weitere Projekte, die Bottom-up gestartet wurden. Im 9. Bezirk zum Beispiel treibt eine lokale Agenda-21-Gruppe das Thema in die Politik.

In Berlin ist zu beobachten, dass Kiezblocks vor allem dort entstehen, wo die Bevölkerung eher bürgerlich geprägt ist. Wie verhindert Ihr in Wien, dass hier soziale Ungerechtigkeiten entstehen?

Ehrlich gesagt, ist das für uns aktuell eher ein Luxusproblem. Wenn man 100 Initiativen hat, muss man priorisieren, wenn man – wie wir in Wien – vier bis fünf Initiativen hat, ist man froh, wenn überhaupt mal was passiert. Perspektivisch werden wir uns aber hoffentlich auch in Wien stärker damit beschäftigen. Grundlagen wollen wir in unserem neuen Forschungsprojekt „TuneOurBlock“ schaffen. Gemeinsam mit verschiedenen Partnern aus Österreich, Slowenien und Deutschland – Changing Cities ist ja auch dabei – wollen wir das Superblock-Konzept validieren, internationalisieren und erweitern. Es soll zukünftig Grundlage einer transformativen Stadtgestaltung sein und so nicht zuletzt die Erreichung der  Nachhaltigkeitsziele des Pariser Abkommens und die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen (UN) unterstützen.

In den modernen Smart Cities entstehen immer mehr Daten, sei es aus der App-Nutzung oder von Sensorik beispielsweise im Bereich der Verkehrssteuerung. Inwieweit können diese Daten helfen, evidenzbasierte Entscheidungen im Rahmen der Superblock-Konzeption zu treffen? Wie eingangs erwähnt: Die Stadt Wien wird in Sachen Datensouveränität international gemeinsam mit Barcelona als Vorreiterin gesehen …

Das ist auf jeden Fall ein wichtiger Punkt. Bereits im SUPERBE-Projekt haben wir datenbasiert Flächenpotenziale für Supergrätzl analysiert. Wir haben Eignungskriterien wie eine hohe Bevölkerungsdichte und ein gutes Öffi-Angebot sowie Notwendigkeitskritierien wie z. B. einen Mangel an öffentlichen Grünflächen definiert. Im TuneOurBlock-Projekt werden wir auch soziale Kriterien aufnehmen. Außerdem wollen wir Zielindikatoren (KPIs) definieren. Das ist gar nicht so einfach, schließlich kann die Zielrichtung je nach lokaler Ausgangssituation unterschiedlich sein. Beispielsweise war im – gescheiterten – Pilotprojekt im 2. Bezirk die Reduktion des Durchgangsverkehrs weniger das Thema als die Flächenaufteilung insgesamt sowie die Problematik der Hitzeinseln. Im laufenden Pilotprojekt im Bezirk Favoriten ist der Durchgangsverkehr aufgrund des rechtwinkligen Rasters aus Gründerzeiten ein ganz zentrales Thema. Wir gehen hier mit TuneOurBlock in Sachen evidenzbasierte Steuerung auf jeden Fall einen großen Schritt weiter. Und was die Stadt Wien als Open-Data-Vorreiterin angeht: Nicht einmal die Stadt weiß, wo in Wien Sitzgelegenheiten sind. Je nachdem, ob die Bank an einem Bach, an einer Straße oder in einer Grünanlage steht, liegen die Informationen bei einer anderen Magistratsabteilung. Aus unserer Sicht ist hier noch sehr viel zu tun, wenn wir wirklich datenbasiert bessere Entscheidungen treffen wollen.

Vielen Dank für das Gespräch, Ulrich!

Lesetipps von Ulrich Leth

Endbericht des SUPERBE-Studie: https://nachhaltigwirtschaften.at/resources/sdz_pdf/schriftenreihe-2020-42-superbe.pdf

Hintergrund zum neuen TuneOurBlock-Projekt: https://www.ait.ac.at/en/research-topics/drc/projects/tune-our-block

Hintergrund zur Genese der Superblocks in Wien: https://citychangers.org/citychanger-florian-lorenz/