Bike-Kitchen North-East in Berlin-Weißensee

Was ist eigentlich die Bike-Kitchen North-East?

Kochlöffel vs. Schraubenschlüssel

Wer dem Begriff Bike Kitchen das erste Mal begegnet, denkt vielleicht an eine Lastenrad-Suppenküche, die im Winter warme Suppe verteilt oder stellt sich die Küche als Metapher für eine Werkstatt vor, in der Fahrräder nach Rezept „gekocht“ werden. Statt Béchamelsoße stehen Zahnkränze und Pedale bereit, und anstelle eines Kochlöffels schwingt ein mechanisch bewanderter Mensch Schraubenschlüssel und Zange.

Tatsächlich entstammt die Wortkombination jedoch dem Prinzip „erst schrauben, dann kochen“. 2002 entstand die erste Bike Kitchen in einer leerstehenden Wohnung in Los Angeles. Um das gemeinschaftliche Miteinander und die entstehende Community zu stärken, haben die Radschrauber*innen nach dem gemeinsamen Schrauben zusammen gekocht und gegessen. Inzwischen finden sich Bike Kitchens in ganz Europa, in Australien und in Südafrika. In den meistens selbstverwalteten Fahrradwerkstätten können Radfahrende mit Unterstützung fachkundiger Helfer*innen ihre Räder selbst reparieren. Wer noch kein eigenes Fahrrad besitzt, kann sich hier eins bauen.

Bike Kichen – Werkzeuge

Bike-Kitchen North-East: Reparieren, kooperieren

Die Bike-Kitchen North-East (BKNE) in Berlin-Weißensee wurde 2013 gegründet. Ihre Besucher*innen finden hier Werkzeug, gebrauchte Ersatzteile und fachliche Unterstützung. Das gemeinsame Essen danach beschränkt sich vor allem auf den Sommer und coronafreie Zeiten. Anders als die meisten anderen Werkstätten in Berlin ist die BKNE komplett selbst verwaltet und funktioniert ausschließlich auf Basis von Spenden und ehrenamtlichem Engagement. So können auch Personen mit kleinem Budget ihr Rad reparieren. Die meisten der Ersatzteile sind gebraucht; Entscheidungen werden in einem kooperativen Prozess getroffen.

Jeden Mittwochnachmittag wird fernab von Hierarchie und Expertentum zusammen geschraubt. Flou, eines der drei Gründungsmitglieder, erklärt das Konzept so: „Wir wollen einfach alle dazu einladen, vorbeizukommen und mit den geteilten Ressourcen solidarisch umzugehen. Verhaltensweisen, die sich damit nicht vereinbaren lassen, werden nicht toleriert.“ Auch für fahrradbezogene Gruppenaktivitäten und Workshops kann die Werkstatt genutzt werden.

Bike Kitchen North East – Eingang

Das KuBiZ: Kulturelles Potpourri unter einem Dach

An einem Mittwochnachmittag fahre ich mit meinem Einkaufsrad zur BKNE, um mein Licht zu reparieren (oder reparieren zu lassen? So ganz klar ist mir das noch nicht). Da ich den Eingang nicht direkt finde, laufe ich erst mal ein bisschen im Kreis herum und komme dabei an einem Gemeinschaftsgarten und Schildern zur Holzwerkstättin vorbei.

Etwas desorientiert umrunde ich das Gebäude, in dem das selbst verwaltete Kultur- und Bildungszentrum Raoul Wallenberg (KuBiZ) untergebracht ist. In der ehemaligen Oberschule befinden sich neben der Selbsthilfewerkstatt und der Holzwerkstättin auch das alternative Jugendzentrum Bunte Kuh, drei integrative Wohnprojekte und ein Umsonstladen. Während der Corona-Hochphase besteht außerdem noch eine kostenlose Lebensmittelausgabe in Zusammenarbeit mit der Berliner Tafel.

Im und um das KuBiZ herum finden kulturelle Projekte wie Theater, Konzerte und Filmvorführungen statt; es gibt einen Bildungs- und Seminarbereich mit politischer Jugend- und Erwachsenenbildung. Hinzu kommen Beratungsangebote z. B. für Geflüchtete und Migrant*innen, eine Bibliothek, ein Medienarchiv, ein Artistikraum sowie Ateliers freischaffender Künstler*innen. Der „Offene Garten“ lädt die Nachbarschaft zum Mitmachen und Mitgestalten ein und der „Offene Raum“ steht diversen Projekten und Selbsthilfeinitiativen zur Verfügung. Das KuBiZ versammelt unter seinem Dach inzwischen gut 20 eigenständige Projekte und bietet all jenen einen Platz, die sich für hierarchiearme, selbstorganisierte und emanzipatorische Lebensweisen einsetzen wollen. Es bietet Freiraum für kreative Tätigkeiten und soziales Engagement jenseits von rassistischen, antisemitischen und autoritären Denk- und Handlungsmustern. Ziel ist es, in einem integrierten Organisationsmodell möglichst viele der Projekte im Haus in den Selbstorganisationsprozess einzubeziehen. Die Beteiligten nutzen die vorhandenen Ressourcen gemeinsam, kooperieren untereinander und tauschen dabei Wissen und Erfahrungen aus.

Da es in Weißensee einige rechte Bewegungen gibt und das kulturelle Angebot insgesamt eher dürftig ausfällt, fällt dem KuBiZ eine besondere Rolle als alternativem Begegnungsort zu.

 

Bike Kitchen North East in Weißensee

Räder mit Geburtstag

Von der Decke der Werkstatt hängen Vorder- und Hinterräder, an einer Wand das Werkzeug. „Idealerweise stellen wir als Helfer*innen nur unsere Beratung, die Werkstatt und das Werkzeug zur Verfügung. Alle sind dazu eingeladen, ihre Projekte selber zu bearbeiten. Erst wenn kein Weg drumrum führt, machen wir Helfer*innen uns für andere die Hände schmutzig (was keinesfalls negativ gemeint ist!)“, erklärt mir Flou.

Mein Licht leuchtet einmal kurz auf und gibt danach erst mal komplett den Geist auf. Immer wieder kommen Leute mit oder ohne Rad vorbei – um einen geplatzten Schlauch auszutauschen, blockierte Pedale zu reparieren, oder einfach nur, um ein bisschen zu quatschen oder sich ein paar Tipps zu holen. Niemand wird weggeschickt, nur weil es gerade etwas voller ist. Stattdessen hilft man sich gegenseitig. Eine der Besucherinnen hat ihr Mountainbike hier im letzten Sommer gebaut; auf dem Rahmen klebt immer noch das Kreppband mit ihrem Namen und dem „Geburtsdatum“ ihres Fahrrads.

 

Vom Kellerraum zum Festival

In einigen freistehenden Kellerräumen im KuBiZ wurde dann vor acht Jahren der Wunsch nach einem offenen Radprojekt im Nordosten Berlins Wirklichkeit. Flou stieß durch Zufall dazu: „Ich hatte von meinem damaligen Nachbarn im Wedding davon gehört, der mit dabei war, dass mehr Leute gesucht wurden. Bei einem der ersten Crewtreffen zu dritt wurde dann auch der Name beschlossen, der auch wieder auf die Lokalität in Berlin anspielt. Das Konzept Bike Kitchen haben wir in Zusammenarbeit mit einer Kochgruppe umgesetzt, die sich immer mittwochs traf. So war dann auch ein wöchentlicher Öffnungstag gefunden.“ Ungefähr vier Freiwillige halten das Projekt seitdem am Laufen und betreuen die Radler*innen mit Unterstützungsbedarf in der Werkstatt.

Direkt zu Beginn entwickelte sich eine Kooperation mit dem Projekt BikeAid, welches mit und für geflüchtete(n) Menschen Räder baut. Nach einem Spendenaufruf sammelten Freiwillige in ganz Berlin Räder und Ersatzteile ein – mit Erfolg. Die Teile füllten einen kompletten Kellerraum aus.

Im Sommer 2020 fand dann erstmals das FRE!LAUF-Festival auf dem KuBiZ-Gelände statt. In der Bike-Kitchen wurde dazu eine „Fahrera-Bahn“, also eine mit Fahrrädern angetriebene Carrera-Bahn, aufgebaut. Sie zeugt von der Kreativität und der Lust am Experimentieren, die dem Projekt zugrunde liegt.

Paulin, die seit zwei Jahren mit dabei ist, schätzt besonders den nachhaltigen Aspekt. „Am meisten gefällt mir das Voneinander lernen und Wiederbenutzen von Gebrauchtteilen. Dadurch, dass bei uns jede*r für die Reparatur des eigenen Fahrrads selbst verantwortlich ist, können wir viel ressourcensparender reparieren, weil das Ergebnis nicht perfekt sein muss. Das gibt mir viel Freiheit, in der Art und Weise, wie Dinge repariert oder wieder benutzt werden dürfen. Ich mag es auch, wenn super unterschiedliche Leute zu uns kommen, die vielleicht sonst gar nicht in Kontakt miteinander treten würden.“

Für Flou macht der partizipative Ansatz viel aus. „Die Bike Kitchen North East ist für mich ein Ort des Teilens. Insbesondere von allem, was sich ums Fahrrad dreht, aber auch gemeinsames Essen, Zeit und Wissen, Ideen und Kreativität, zwischen Menschen egal welcher Herkunft, Gender und Alters. Wie gut das funktioniert, ist immer wieder eine Frage des Ausprobierens.“

 

Bike Kitchen North East – Diversity

Bikes, Bildung und Begegnung – offen für alle

Offen für Menschen und Ideen, fernab von Hierarchien und staatlicher Bürokratie: die BKNE ermöglicht Begegnung und handlungsorientiertes Lernen. Sie spricht explizit Personengruppen an, die des öfteren Ausgrenzung erfahren und sich nicht immer in den Konzepten staatlicher (Bildungs-)Angebote wiederfinden; gleichzeitig werden diskriminierende Verhaltensweisen ausgeschlossen. „Schon den gründenden Personen war es wichtig, gendersensibel und achtsam miteinander umzugehen“, erklärt Flou. „Die BKNE ist explizit queer-friendly und hat eine Null-Toleranz-Grenze für Sexismus, Transphobie und rassistische Verhaltensweisen.“ Während auf politischer Ebene viel diskutiert wird und Maßnahmen für Klimaschutz und Verkehrswende in Faultiergeschwindigkeit umgesetzt werden, fördert die BKNE auf sozial gerechte, simple und nachhaltige Weise die Nutzung des einen Verkehrsmittels, das eine faire und umweltfreundliche Mobilität ermöglicht. Das ehrenamtliche Recyceln und Reparieren von Gebrauchsgegenständen stellt angesichts der „Wegschmeißen-Neukaufen“-Mentalität unserer Gesellschaft sowie der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche einen ziemlichen Sonderfall dar und verdient – sogar in Berlin – besondere Aufmerksamkeit.

Wer mitmachen möchte, ist herzlich dazu eingeladen. Spenden werden gerne vor Ort oder auch per Überweisung entgegengenommen. Information und Kontakt zur BKNE im Porträt.