Stau auf dem Hollywood Freeway, Los Angeles 1961

Zurück in die Zukunft: Eine Zeitreise in die menschengerechte Stadt – in welche Richtung müssen wir?

Ein Beitrag von Antje Heinrich

Ein nicht abreißender Strom tonnenschwerer Metallkisten rast dicht an den Menschen vorbei, die sich auf den übrig gebliebenen schmalen Streifen längs der Gebäudefassaden drängen. Die einzige Möglichkeit, lebendig auf die andere Seite des Metallflusses zu gelangen, bietet sich alle paar hundert Meter, wo ab und zu ein grünes Licht aufleuchtet, welches signalisiert, dass nun ein paar Sekunden Zeit für die Überquerung ist. Die sonderbaren Gefährte produzieren einen nervtötenden Lärm und rauben der Stadtbevölkerung rund um die Uhr ihre Ruhe und ihren Schlaf. Aus einem Rohr am hinteren Teil des Metallmonsters kommt ein giftiges Gas, das zu schweren Krankheiten bei Menschen, Tieren und Pflanzen führt und so schleichend alles Lebendige zerstört. Damit die Blech-Ungetüme schnell und geschmeidig vorankommen, muss ein großer Teil des natürlichen Bodens mit einer schwarzen Pampe übergossen werden, auf der fortan nie wieder ein Grashalm wächst. Nahezu jeder freie Fleck in der Stadt dient als Abstellfläche für die Transport-Maschinen und alle Wege sind beidseitig von einer lückenlosen Blechwand gesäumt, wodurch es kaum noch Raum für etwas anderes gibt, wie zum Beispiel ein Fleckchen Natur, ein Platz zum Rasten für Ältere oder zum Spielen für Kinder. Nur ein paar Wenige finden diese Situation nicht optimal und fragen vorsichtig, ob die Zahl der blechernen Zerstörungsmaschinen eventuell etwas reduziert werden könnte. Doch die Maschinen werden aus einem unerklärlichen Grund angebetet wie ein Gott. Und jede*r, der etwas an ihm kritisiert oder ihm Platz wegnehmen will, wird beschimpft oder belächelt. Dem Metallgott werden selbst Menschenopfer dargeboten – Tausende jedes Jahr.

Nein, leider ist dies keine Passage aus einem dystopischen Roman ein*er Schriftsteller*in mit einer etwas zu blühenden Fantasie, sondern eine exakte Beschreibung der ganz normalen autogerechten Stadt, also der Realität, in der wir leben. Eine etwas übertriebene Beschreibung, würden Einige sagen. Ich bin jedoch sicher, dass ein*e Zeitreisende*r aus dem 19. Jahrhundert es genau so empfunden hätte. Worauf ich hinaus möchte ist Folgendes: Was uns normal erscheint, ist keineswegs objektiv, sondern von unserer Sozialisierung bestimmt. Wir finden nicht etwa das normal, was vernünftig, natürlich oder logisch ist, sondern schlicht und einfach das, was wir gewohnt sind. So, wie wir heute die autogerechte Stadt nicht hinterfragen, sondern alles, was davon abweicht (z.B. wegfallende Parkplätze oder Geschwindigkeitsbegrenzungen für Pkw), empfanden Menschen vor nicht allzu langer Zeit das Gegenteil als normal und protestierten gegen die gefährlichen neuen Automobile auf den Straßen. Die Beschäftigung mit der Geschichte der urbanen Mobilität lässt uns die heutigen Städte mit anderen Augen sehen. Wenn wir zurückblicken, dann sehen wir, wie weit wir uns von dem entfernt haben, was menschengerecht und lebenswert ist. Ich frage mich dann oft, was die Menschen damals dazu getrieben hat, die Ruhe, Sicherheit und Schönheit ihrer Städte dem Auto zu opfern. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir gar nicht so weit in der Geschichte zurückgehen.

Die Zeitreise beginnt im Jahr 1890: Selbstverständlich sind die Städte um die Jahrhundertwende alles andere als perfekt. Luftverschmutzung, verseuchtes Wasser und das rasantes Bevölkerungswachstum machen vor allem den ärmeren Schichten das Leben schwer. Doch was die Mobilität und die damit verbundene Struktur der Städte angeht, sind die Städte von damals uns um Einiges voraus. Die Menschen bewegen sich zu Fuß, in Kutschen, in Straßenbahnen und mit Fahrrädern fort. Das Automobil ist bereits erfunden, jedoch zu dieser Zeit ein Luxus, den sich nur sehr Wenige leisten können. Zunächst beginnt ein weltweiter Fahrradboom. Nachdem das Fahrrad das 19. Jahrhundert hindurch eher ein teures Spielzeug für Adelige gewesen war, ist dessen Technologie nun etwas ausgereifter und die Industrialisierung macht es auch für die Arbeiterklasse erschwinglich. Bis in die 1940er Jahre entwickelt sich das Fahrrad immer weiter zum Massentransportmittel[i].

 

Rush Hour in Kopenhagen um 1940
Rush Hour in Kopenhagen um 1940

 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehören die Straßen den Menschen. Sie sind Orte der Begegnung und des Austausches, Kinder rennen umher, Nachbar*innen unterhalten sich, kurz gesagt, das gesellschaftliche Leben spielt sich zu einem großen Teil im öffentlichen Raum ab, der eine Art Erweiterung der eigenen Wohnung ist. Die „15-Minuten-Stadt“, die heute von einigen progressiven Stadtplaner*innen als Ideal angestrebt wird, war damals Normalität. Sei es Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Unterhaltung oder Bildung, alles war fußläufig in unter 15 Minuten erreichbar. Als das Fahrrad aufkam, erweiterte sich der Radius der Menschen etwas, sie konnten nun auch ein paar Kilometer weiter entfernt Arbeit suchen, aus der Stadt hinaus ins Grüne fahren oder andere Stadtteile besuchen.

 

Typische Nutzung der Straße Anfang des 20. Jahrhunderts
Typische Nutzung der Straße Anfang des 20. Jahrhunderts, hier Madrid, 1920er Jahre

 

Mit der Anfang des 20. Jahrhunderts beginnenden Fließbandproduktion wird das Auto in den westlichen Ländern jedoch allmählich auch für die Mittelschicht bezahlbar und wird immer mehr Teil des Stadtbildes. In den 30er Jahren gibt es bereits so viele Autos, dass sie zu einem gravierenden Sicherheitsproblem werden. Eines der Symptome dieser Entwicklung sind interessanterweise Kinderspielplätze. Sie beginnen sich Anfang des 20. Jahrhunderts in Städten als direkte Folge des stark steigenden motorisierten Individualverkehrs zu etablieren. Kinder waren es bis dahin gewohnt, sorglos auf der Straße zu spielen. Mit dem plötzlichen Aufkommen der Autos geraten sie in Massen unter die Räder. In Gedenken an die enorme Anzahl an durch Autos getötete Kinder werden Monumente errichtet und ein Großteil des organisierten Protestes gegen Autos auf den Straßen geht von den wutentbrannten Müttern aus. Dies bereitete der aufstrebenden Autoindustrie ernsthafte Sorgen, denn sie fürchtete um ihren Absatz, sollte das Auto weiterhin so verhasst bleiben[ii]. Ob Spielplätze von der Autolobby eingeführt und finanziert wurden, um die aufgebrachte Bevölkerung zu besänftigen oder diese „nur“ eine Konsequenz der zu gefährlich gewordenen Straßen waren, darüber wird spekuliert. In jedem Fall sind Kinderspielplätze ein Sinnbild für die Verdrängung des Lebens von den Straßen und die Reduzierung des öffentlichen Raumes auf kleine begrenzte Flächen, deren Verlassen oft lebensgefährlich ist. Kinder verloren ihre Autonomie und das Leben der Eltern wurde stressiger und komplizierter.

 

Spielende Kinder in New York 1909
Spielende Kinder auf einer Straße in New York, 1909

 

Die Autoindustrie begegnet dem großen Widerstand in der Bevölkerung mit gezielten Marketing-Kampagnen. Die Menschen waren es seit Jahrhunderten gewohnt, sich frei in der Stadt zu bewegen. Irgendwie musste ihnen jetzt eingetrichtert werden, dass die Straße von nun an den Autos gehört. Menschen, die sich nicht an die Verkehrsregeln halten, werden verspottet. Es gibt sogar Schauprozesse, in denen zu Fuß Gehende, die sich nicht anpassen wollen, öffentlich lächerlich gemacht werden. In den USA wird das Wort „jaywalking“ im Marketing eingesetzt. „Jay“ ist ein abwertender Begriff für einen Menschen vom Land, der die Regeln der großen Stadt nicht kennt, dem Fortschritt im Weg steht und selbst schuld ist, wenn er die Straße nicht an der dafür vorgesehenen Stelle überquert und totgefahren wird ‒ die wahrscheinlich erste victim blaming (Beschuldigung des Opfers) Kampagne der Autoindustrie[iii].

 

Frühe Beispiele für Victim Blaming
Frühe Beispiele für victim blaming. links: Jaywalking-Kampagne in den USA; rechts: Demonstration gegen unvorsichtige Fußgänger*innen in Berlin

 

Stück für Stück transformieren sich die Städte und die Menschen fügen sich der neuen Realität. In den 60er Jahren ist die autogerechte Stadt auf ihrem Höhepunkt angekommen. Nur wenige Jahrzehnte nach der Erfindung des Autos sind die Städte nicht wiederzuerkennen. Das Fahrrad ist fast vollständig aus den Städten verschwunden, denn das Auto hat den verfügbaren Platz eingenommen und macht das Radfahren außerdem zu gefährlich. Von den 1930er bis in die 1960er Jahre hatte General Motors in den USA das bis dahin exzellent ausgebaute öffentliche Personennahverkehrsnetz der Großstädte systematisch zerstört. Der Automobilhersteller hatte die Straßenbahnunternehmen aufgekauft, um anschließend alle Fahrzeuge direkt zu verschrotten und die Linien stillzulegen[iv]. Ähnliches spielte sich auch in vielen europäischen Städten ab. Auf diese Weise gab es kaum noch eine Alternative zum Auto und die Absätze konnten weiter steigen. Mehrspurige Straßen durchkreuzen nun die Stadtzentren und ganze Wohnviertel sind Autobahnen gewichen. Die Städte sind zugestaut, zugeparkt und ersticken im Smog. Anscheinend stellte sich damals kein Stadtplaner*innen die Frage, was eine Stadt eigentlich lebenswert macht. Das Resultat sind seelenlose, trostlose Betonwüsten.

 

Straßenbahnwagen auf einem Schrottplatz 1956
Straßenbahnwagen der Pacific Electric Railway auf einem Schrottplatz, 1956

 

In den 1970ern beginnen einige Menschen sich zu besinnen und immer mehr Umwelt- und Fahrradbewegungen gründen sich. Doch die Städte sind bereits an die Bedürfnisse der Autos angepasst und die Menschen haben diese neue Normalität verinnerlicht. Obwohl das Auto erst seit kurzer Zeit Teil der Menschheitsgeschichte ist, empfinden Viele dessen Besitz und einen Parkplatz vor der Tür als eine Art Menschenrecht. Es kann ihnen nicht einmal vorgeworfen werden, dass der Vorschlag, das Auto wieder abzugeben, ihnen abwegig erscheint. Denn alles andere als die Fortbewegung mit dem Auto ist in größeren Städten mittlerweile tatsächlich unpraktisch, teuer und gefährlich. Die Wege sind zu lang, um sie zu Fuß zurückzulegen, gleichzeitig gibt es kein gutes öffentliches Verkehrsnetz mehr, von Radwegen ganz zu schweigen.

Das Auto hatte den Menschen mehr Komfort, Unabhängigkeit und Zeitersparnis versprochen. Es brachte jedoch genau das Gegenteil. In den 70er Jahren beschreibt Ivan Illich das Paradox: Je höher die Geschwindigkeit eines Verkehrsmittels, desto knapper werden die Ressourcen Raum und Zeit[v]. Ein schnelleres Verkehrsmittel ermöglicht es den Menschen zwar, größere Distanzen zurückzulegen. Doch anstatt wie einst ein paar Minuten zur Arbeit, zur Schule oder zum Einkaufen zu laufen, müssen sie dafür nun oft die halbe Stadt durchqueren. Durch diese enorme Vergrößerung des Radius wird das soziale Gefüge der Städte zerstört, denn Wohnen, Arbeiten und Freizeit spielen sich nicht mehr am selben Ort ab, Familie und Freund*innen wohnen nun oft weit voneinander entfernt und Nachbar*innen kennen sich nicht mehr. Auf diese Weise begeben sich die Menschen in die Abhängigkeit von fossiler Mobilität, sie müssen sich auf vorgegebenen Wegen fortbewegen und werden zum Konsum von Transport gezwungen. Es ist ein Teufelskreis. Die Menschen planen ihr Leben um das Auto herum und die Stadt entwickelt sich entsprechend dieser Entscheidungen. Gäbe es das Auto nicht, würde man sein Kind nicht in einen Kindergarten am anderen Ende der Stadt schicken, oder einen Job annehmen, der 50 Kilometer weit entfernt ist. Die Menschen würden im eigenen Wohnviertel einkaufen gehen und die Läden dort würden erhalten bleiben.

 

Durch Autoinfrastruktur zerstörtes Stadtviertel in Detroit
Durch Autoinfrastruktur zerstörtes Stadtviertel in Detroit. Oben: 1959, unten 1961 ‒ kurz vor Eröffnung des „freeway“

 

Jahrzehnte autogerechter Stadtplanung sind nicht von heute auf morgen rückgängig zu machen und vor allem geschieht es nicht automatisch. Denn Infrastruktur beeinflusst menschliches Verhalten und nicht andersherum. Mehr Platz für Autos führt zu noch mehr Autos. Dieses simple Prinzip haben Viele noch heute nicht begriffen. Jahrzehntelang wurde versucht, das Stauproblem durch mehr und breitere Straßen zu lösen und seit Jahrzehnten funktioniert es nicht, sondern die Zahl der Autos erhöht sich nur noch mehr.

Heute, circa 100 Jahre nachdem das Auto anfing, unsere Städte zu zerstören, beginnen wir zu begreifen, was wir verloren haben und dass wir schon einmal hatten, was wir heute so dringend brauchen, um unsere Lebensqualität und unsere Umwelt zu retten. Um dahin zurückzukommen, braucht es lediglich ein Umdenken in der Bevölkerung und den Willen, etwas zu ändern. So grotesk wie den Menschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Auto erschien, muss es uns auch heute erscheinen. Dazu müssen wir uns nur die Absurdität der autogerechten Stadt wieder zurück ins Bewusstsein rufen. Vielleicht hat diese kleine Zeitreise dabei geholfen. Diese Reise zur menschengerechten Stadt ging in die Vergangenheit. Es liegt an uns hier in der Gegenwart, dafür zu sorgen, dass uns auch eine Reise in die Zukunft in eine lebenswerte Stadt versetzt.

 

 

 

 

Quellenverzeichnis

 

Text:

[i] Mikael Colville-Andersen (2018). Copenhagenize: The Definitive Guide to Global Bicycle Urbanism (S. 17)

[ii] Peter D. Norton (2011). Fighting Traffic: The Dawn of the Motor Age in the American City (S. 83)

[iii] https://paleofuture.com/blog/2013/7/22/the-invention-of-jaywalking-was-a-massive- shaming-campaign

[iv] https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer_Amerikanischer_Stra%C3%9Fenbahnskandal

[v] Iván Illich (1974). Energy and Equity

 

Bilder: