Roter Teppich für Radfahrende

Radentscheide: Was bisher geschah…

Nordrhein-Westfalen bekommt auf Initiative der Zivilgesellschaft ein Radgesetz und deutschlandweit kämpft eine Vielzahl von Radentscheiden für eine bessere Mobilität.

Ein Überblick über die Bewegung von Rinus Heizmann

In Berlin wurden im Juni 2018 umfangreiche Verbesserungen der Radverkehrsinfrastruktur  als Teil des Mobilitätsgesetzes beschlossen. Vorausgegangen war das Volksbegehren der Initiative „Volksentscheid Fahrrad“, die im Sommer 2016 in Rekordzeit über 100.000 Unterschriften für ein Radgesetz sammeln konnte. Dieser Erfolg hat die Mobilitätswende weg vom Primat des motorisierten Individualverkehrs hin zu lebenswerten Städten, sicherem Radfahren für alle und einer guten und umweltfreundlichen Mobilität beflügelt. Weitere Radentscheide und Initiativen ließen nicht lange auf sich warten. Einen vorläufigen Höhepunkt feiert die Bewegung aktuell in Nordrhein-Westfalen.

Erfolgreiche Volksinitiative in Nordrhein-Westfalen

Dort hat der Landtag Ende vergangenen Jahres beschlossen, die Forderungen des Bündnisses „Aufbruch Fahrrad“ zu übernehmen und ein Gesetz zu verabschieden, das den Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur fördert. Damit wird NRW das erste deutsche Flächenland, das ein Radgesetz bekommt. Bislang hat nur Berlin ein solches Gesetz vorzuweisen. An dieser Stelle sei nun eine kleine Chronologie der Ereignisse aufgestellt, die zur erfolgreichen Volksinitiative führten:

Im Herbst 2016 begann der Verein RADKOMM e. V. mit der Planung und Vorarbeit für das Aktionsbündnis, das  im April 2017 unter dem Namen „Aufbruch Fahrrad“ gegründet wurde. Der offizielle Startschuss der Volksinitiative wurde am 16. Juni 2018 gegeben. Nun musste das Bündnis aus 215 Organisationen und Verbänden um die Initiatoren RADKOMM e. V. und Allgemeiner Deutscher Fahrradclub NRW die für eine erfolgreiche Durchführung der Volksinitiative nötigen 66.000 Unterschriften sammeln. Innerhalb eines Jahres wurden tatsächlich 206.687 Unterschriften gesammelt (und damit mehr als dreimal so viel wie nötig). Am 2. Juni 2019 wurden diese bei einer Fahrrad-Sternfahrt in Düsseldorf symbolisch an die Landesregierung übergeben.

„Aufbruch Fahrrad“ ist damit die bisher erfolgreichste Volksinitiative des Landes und die erste, die im Landtag angenommen wurde. Denn nach einer Anhörung und Beratungen im Verkehrsausschuss stimmte der Landtag der Volksinitiative am 18. Dezember 2019 endgültig mit großer Mehrheit zu. Außerdem wurde beschlossen, dass NRW ein eigenes Radgesetz bekommen soll, in dem die Forderungen der Initiative aufgegriffen werden. Was wird sich dadurch ändern?

Ziel und Forderungen von „Aufbruch Fahrrad“

Das Ziel der Initiative ist die Erhöhung des Radverkehrsanteils von heute ca. 8 % auf 25 % bis 2025. Dafür wurden neun konkrete Maßnahmen zur Förderung der Fahrradmobilität gefordert, die in einem Radgesetz verankert werden sollen:
Die Verkehrsplanung soll für mehr Verkehrssicherheit auf Straßen und Radwegen sorgen, indem sie sich konsequent an der „Vision Zero“ orientiert (die Zielvorgabe, die Zahl der Verkehrstoten auf Null zu senken). Zudem muss das Land NRW den Radverkehr gezielt in der Öffentlichkeit bewerben. Es wird ein 1.000 km langes Radschnellwegenetz für den Pendelverkehr bis 2025 gefordert, außerdem der Bau von 300 km überregionalen Radwegen im Jahr. Auch sollen die Kommunen vom Land Unterstützung beim Ausbau der Radinfrastruktur erhalten und Fahrradstraßen gefördert werden. Das Land stellt Ministerien und Behörden ausreichend Personal mit Fahrrad-Expertise bereit, um Radbelange in der Planung durchgängig zu berücksichtigen und die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer*innen zu gewährleisten. Weiterhin soll die Fahrradmitnahme in Bahn und Bus kostenlos werden und ausreichende Kapazitäten dafür geschaffen werden. Zudem werden eine Million neue Fahrradabstellplätze bis 2025 sowie ein Netz an Ladestationen für E-Bikes gefordert. Zuletzt soll der Einsatz von Lastenrädern, unter anderem mit einer Lastenradprämie, gefördert werden. Vertreter*innen der Initiative haben sich bereits im Januar zusammen mit anderen Verbänden und Beamten des Ministeriums zu einem Arbeitstreffen im Verkehrsministerium zusammengefunden, um die Arbeit am zukünftigen Radgesetz zu beginnen.

Überblick über die Radentscheid-Bewegung in Deutschland

Wie das aktuelle Beispiel aus NRW zeigt, ist aus einer Initiative begeisterter Fahrradaktivist*innen in Berlin-Neukölln eine deutschlandweite Graswurzelbewegung geworden. Mittlerweile gibt es in Deutschland 30 Radentscheide, weitere sind bereits in Vorbereitung und Planung. Dabei sind ganze Bundesländer, wie beispielsweise Brandenburg und viele Städte, von Klein- bis Großstadt. So wurden etwa in Bayern sämtliche Forderungen zweier Bürgerbegehren des Radentscheids München im Juli 2019 vom Stadtrat übernommen. Das gleiche Kunststück gelang dem Radentscheid Bamberg trotz erheblichem Widerstand der Stadt im Frühjahr 2018.

Manche Initiativen stehen noch am Anfang und sind gerade erst mit ihren Forderungen an die Öffentlichkeit gegangen, so etwa in Freiburg oder Braunschweig.  Andere sind schon am Ziel, wie z. B. der Radentscheid Würzburg. Nachdem die benötigten Unterschriften dort in weniger als zwei Wochen gesammelt werden konnten, hat sich der Stadtrat allen Forderungen angeschlossen. Die Aktivist*innen bleiben dran, um die Umsetzung der Verkehrswende sicherzustellen. Anderswo sind Initiativen derzeit in der heißen Phase und sammeln Unterschriften, um die träge Politik zum Handeln zu zwingen, unter anderem in Erlangen und Brandenburg. Doch wer sind die Akteur*innen der wachsenden Radenscheid-Bewegung?

Wer steckt dahinter?

Die Radentscheide in Deutschland haben bislang insgesamt 687.040 Unterschriften für eine bessere Mobilität gesammelt (Stand Januar 2020). Getragen werden all diese Initiativen von ehrenamtlichen Aktivist*innen. Darin liegt die große Stärke der Bewegung: Sie kommt aus der Zivilgesellschaft und ist selbstorganisiert. Bei Radentscheiden handelt es sich also immer um eine Verkehrswende von unten. Damit trifft sie einen Nerv, wie die beeindruckende Zahl an Unterschriften, die hohe Beteiligung an Protest- und anderen Aktionen sowie der große Rückhalt in der Bevölkerung zeigen. In Zeiten von Fridays for Future und Klimadebatte ist es Zeit für Veränderung auf den Straßen. In Anbetracht stagnierender deutscher Klimaschutzbemühungen, insbesondere im Verkehrssektor, spielen die Radentscheide eine entscheidende Rolle, denn der Einsatz für nachhaltige Mobilität ist immer auch Klimapolitik. Nicht zuletzt wird dabei die große Frage aufgeworfen: Wem gehört die Stadt und wem die Straße? Fahrenden und parkenden Autos oder uns allen zusammen? Radentscheide treten für eine menschenfreundliche Stadt ein: mit guter Luft zum Atmen und einer sicheren, für alle verfügbaren Mobilität, mit Freiraum zum Leben, Spielen, Feiern - eine Stadt als Ort der Begegnung.

Was bringt die Zukunft?

Auch nach dem Erfolg von Volksinitiativen und Bürgerbegehren gibt es genug zu tun für die Aktivist*innen. Die Umsetzung des Erreichten muss kritisch begleitet werden, etwa durch die Mitarbeit an einem Fahrradgesetz. Zudem ist es wichtig, durch Öffentlichkeitsarbeit und kreative Aktionen den Druck auf die Handelnden aufrechtzuerhalten. Die größte Aufgabe für die Bewegung ist es jedoch, sich enger zu vernetzen und weiterzuentwickeln. Alle Radentscheide, die zukünftig gegründet werden, können von den Erfahrungen ihrer Vorgänger profitieren. Außerdem kann eine geeinte Bewegung gemeinsam auf bundespolitischer Ebene agieren. Sie spricht mit einer starken Stimme all derer, die einen Wandel hin zu sicherer, nachhaltiger Mobilität und lebenswerten Städten wollen. Auf diesem Weg wurde schon viel erreicht – doch das ist erst der Anfang.

Beitragsbild: verenafotografiert.de