Fernsehturm Berlin

Jubiläum: Zehn Jahre Mobilitätsprämie

Ein Rückblick auf den Beschluss, der Berlin veränderte
von Antje Heinrich

Genau 10 Jahre ist es nun her: Nach monatelangen Verhandlungen beschloss der Berliner Senat am 26. Mai 2010 die Mobilitätsprämie. Berlin ist heute Vorreiter und Vorbild für Großstädte weltweit. Mehrfach ausgezeichnet als nachhaltigste und lebenswerteste Metropole der Welt, inspiriert sie viele Städte zur Nachahmung. Vor Kurzem wurde der 26. Mai daher in Berlin zum Feiertag erklärt. Die große Jubiläumsfeier findet dieses Jahr auf dem Tegeler Feld statt, um gleichzeitig die lang ersehnte Eröffnung des Stadtparks auf dem ehemaligen Flughafengelände zu zelebrieren. Ein Blick auf Berlin vor und nach der Prämie, die den Stadtverkehr revolutionierte.

Im Jahr 2008 hatte die Wirtschaftskrise Staaten auf der ganzen Welt vor enorme Herausforderungen gestellt und eine gesellschaftliche Debatte darüber entfacht, wie die Konjunktur am besten angekurbelt werden sollte. Insbesondere im Mobilitätssektor spiegelte sich diese Grundsatzdiskussion wider. In Deutschland als damaliges Autoland wurden die Forderungen nach einer sogenannten „Abwrackprämie“ laut. Viele haben es heute vergessen und die Idee erscheint im Rückblick absurd. Doch damals wurde sie tatsächlich intensiv im Bundestag diskutiert. Es schien sogar kurzzeitig so, als würde die Autolobby sich durchsetzen und die irreführenderweise auch „Umweltprämie“ genannte Maßnahme tatsächlich beschlossen werden. Zur Erinnerung: Die Autoindustrie forderte damals, allen Bürger*innen bei Verschrottung des alten Pkw und Kauf eines Neuwagens ein Geldgeschenk zu machen, um Kaufanreize zu schaffen. Dieser Vorschlag stieß bei vielen Menschen auf Unverständnis: Wieso diese selektive Ankurbelung der Wirtschaft? Was ist mit dem Gesundheitswesen? Was ist mit der Kultur? Warum nur Autos fördern? Was ist mit Fahrrädern und ÖPNV? Vor allem in der Umwelt- und Klimabewegung löste die Idee der „Abwrackprämie“ große Empörung aus. Steuergelder für die Produktion von Verbrennungsmotoren in Zeiten von Klimawandel? Die Behauptung der Autoindustrie, der Kauf umweltschonender Neuwagen wäre eine Klimaschutzmaßnahme, konnte durch einfache Berechnungen wissenschaftlich widerlegt werden. Die Verschrottung von Pkw, die noch jahrelang hätten fahren können, erfordert die massive Produktion neuer, meist größerer Autos, die nicht unbedingt weniger verbrauchen. Das hätte die minimalen Effekte durch effizientere Motoren zunichte gemacht. Nicht einmal wirtschaftlich hätte sich die Prämie gelohnt. Denn nach einem kurzen Anstieg der Verkaufszahlen wäre der Markt gesättigt gewesen und die Neukäufe wären in den Keller gestürzt.

Trotz all dieser Argumente konnte das Inkrafttreten der desaströsen Prämie erst nach massiven Protesten in letzter Minute abgewendet werden. Ausschlaggebend war letztendlich ein alternativer Vorschlag aus der Zivilbevölkerung: Die inzwischen berühmt gewordene „Mobilitätsprämie für alle“, wie sie im Volksmund genannt wird (offiziell „Richtlinie zur Förderung des Absatzes von nachhaltiger und menschenfreundlicher Mobilität“). Ein breites Bündnis machte sich dafür stark, nicht Autos, sondern Fahrräder, Lastenräder, ÖPNV und andere nachhaltige und stadtverträgliche Verkehrsformen zu fördern. Das Ergebnis ist allgemein bekannt: Schon wenige Monate nach Inkrafttreten der Mobilitätsprämie waren die positiven Auswirkungen spürbar und heute, zehn Jahre später, können wir uns gar nicht mehr vorstellen, wie wir damals in einer Stadt mit so vielen Autos leben konnten und warum wir mit der Verkehrswende so lange gewartet haben.

 

Karl-Marx-Allee im Jahr 2010
Karl-Marx-Allee im Jahr 2010 © Brian Karp
Karl-Marx-Allee 2020
Karl-Marx-Allee im Mai 2020 © Brian Karp

 

Die Liste der Vorteile weitgehend autofreier Städte würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen und die meisten von uns haben den Wandel ja selbst miterlebt. Doch damit wir diese wundervolle Errungenschaft nicht als selbstverständlich hinnehmen und sie jeden Tag aufs Neue wertschätzen, möchte ich dennoch an einigen Beispielen das Berlin vor und das Berlin nach der Mobilitätsprämie einander gegenüberstellen.

Wir beginnen mit den Radwegen, die wir Berliner*innen so lieben. Vor der Mobilitätsprämie gab es ein lückenhaftes Netz meist kaputter, viel zu schmaler und zugeparkter Radwege. Seit es weniger Autos gibt, konnten Fahrspuren in geschützte Radwege umgewidmet werden. Ergänzt werden diese Radwege durch autofreie Nebenstraßen, Fahrradstraßen und natürlich unsere großartigen Radschnellwege. Fahrradfreundliche, sogenannte „smarte“ Ampelschaltungen sorgen zusätzlich für ein schnelles Vorankommen. Kürzlich berichteten wir außerdem über die Einweihung der Radbahn unter dem Hochbahn-Viadukt der U1, unter der Radfahrende nun entspannt und vor Regen geschützt von der Warschauer Straße bis zum Bahnhof Zoo durchfahren können. Heutzutage ist durch das sichere und lückenlose Radverkehrsnetz selbst bei gemütlichem Tempo das Fahrrad fast immer schneller als der Pkw, vor allem, seitdem stadtweit Tempo 30 gilt. Es gibt zwar noch immer ein paar wenige Autos, aber fast nur noch in Form von Car-Sharing und selbstverständlich nur mit Elektroantrieb. Das berlinweite Verbot von Verbrennungsmotoren ließ nach dem Beschluss der Mobilitätsprämie nicht lange auf sich warten. Denn durch diese gezielte Subvention wurde nachhaltige Mobilität für alle bezahlbar und wurde somit auch politisch realisierbar.

Natürlich können oder wollen nicht alle Menschen immer Rad fahren. Flankiert wird unser Radwegenetz daher von der zweiten Säule der modernen Mobilität, dem ÖPNV. Die Mobilitätsprämie macht dessen Nutzung sehr günstig und daher spart es nicht nur enorm viel Zeit, sondern auch Geld, kein Auto zu besitzen. Viele von uns erinnern sich noch daran, wie lange man früher teilweise auf Busse oder Bahnen warten musste, wie voll die Züge waren und wie oft sie ausfielen. Zudem war gerade in den Außenbezirken der Weg zur nächsten Haltestelle oft sehr weit. Der Ausbau des ÖPNV durch die Erweiterung des Straßenbahnnetzes und die Verdichtung des S- und U-Bahn-Taktes überzeugte viele Menschen von der endgültigen Abschaffung ihres Pkws.

Doch es blieb noch immer der Wirtschaftsverkehr, der einen großen Teil der motorisierten Mobilität ausmachte. Denn ein gültiges Argument für das Halten eines Kraftfahrzeugs war vor der Mobilitätsprämie die Notwendigkeit schwerer Transporte. Seitdem jedoch Lastenräder gefördert werden, wird ein Großteil des Wirtschaftsverkehrs – vom kleinen Gewerbe über große Unternehmen bis hin zu Handwerksbetrieben – mit Lastenrädern abgewickelt, für größere Transporte auch mit Elektroantrieb. Hermann P. aus Kreuzberg berichtet von der Zeit vor der Mobilitätsprämie: „Ich erinnere mich noch an den täglichen Stress und die Frustration bei Auslieferungen. Diese ewigen Staus und das Schneckentempo, mit dem man vorankam. Und wenn ich dann endlich da war, musste ich noch mindestens eine halbe Stunde zur Parkplatzsuche einplanen. Oft hatte ich gar keine andere Wahl, als mich ins Halteverbot oder in die zweite Reihe zu stellen und musste mir dann noch den Unmut der Radfahrenden anhören, die sich überall kreuz und quer zwischen den Autos hindurch schlängelten! Seitdem ich mit dem Lastenrad ausliefere und die Radwege so schön breit geworden sind, ist mein Blutdruck stark gesunken!”

Apropos Gewerbe: Was ist eigentlich das Fazit des Einzelhandels nach zehn Jahren Mobilitätsprämie? Studien zeigen, dass die kleinen Geschäfte eindeutig davon profitieren. Insbesondere in den Straßen, die zu Fußgängerzonen umgewandelt wurden, sind die Umsätze gestiegen. Demgegenüber mussten größere Handelsketten, deren Erreichbarkeit nur auf die Anfahrt mit dem Auto ausgelegt ist, Umsatzeinbußen verbuchen.

Der Befürchtung von Rezession und Arbeitslosigkeit, vor allem in der Autoindustrie, konnte entgegengewirkt werden. Die Automobilbranche begann dank der Mobilitätsprämie endlich ihre längst überfällige Transformation und spezialisierte sich auf die Produktion zukunftsfähiger Verkehrsmittel. Auf diese Weise konnten sowohl Arbeitsplätze gesichert als auch die erhöhte Nachfrage nach Fahrrädern, E-Bikes und Lastenrädern gedeckt werden. Insbesondere der Ausbau der Berliner S- und U-Bahnen sowie Straßenbahnlinien wäre ohne die Hilfe der ehemaligen Automobilbranche (jetzt Mobilbranche) so schnell nicht möglich gewesen.

Doch beim Thema Auto geht es nicht nur um Mobilität: Das Auto griff in unser komplettes Leben ein. Wir alle möchten heute nicht mehr das Schlafen bei offenem Fenster oder das Entspannen auf dem Balkon missen. Es erscheint wie eine Geschichte aus einer längst vergangenen Zeit, doch vor nur einem Jahrzehnt lebten die Menschen rund um die Uhr mit Verkehrslärm. Er war so normal, dass Viele sich nicht einmal darüber aufregten, sondern ihn einfach als gottgegeben hinnahmen. Das Gleiche galt für Parkplätze. Die parkenden Autos nahmen riesige Flächen im öffentlichen Raum ein, und das fast kostenlos! Heute ist das kaum vorstellbar, aber die meisten Menschen nahmen Lärm und Platzmangel nicht wahr, sie waren Normalität. Es brauchte einen radikalen Perspektivenwechsel, damit Menschen überhaupt das Potenzial der Parkflächen erkennen konnten. Durch die Umwidmung der Parkplätze wurde enorm viel öffentlicher Raum frei, der nun für alles Mögliche genutzt wird. Viele Flächen wurden begrünt und machen unsere Stadt nicht nur schöner, sondern auch unsere Luft sauberer und die Sommer in der Stadt etwas kühler.

Die Lebensqualität in den Wohnvierteln ist seit der Sperrung für den motorisierten Durchgangsverkehr beträchtlich gestiegen und Berlin ist mittlerweile weltweit für seine flächendeckenden #Kiezblocks bekannt. Stell dir vor, du sitzt mit Freunden in einem Café und ihr würdet statt wie heute auf Stadtgrün, auf Asphalt und Blech schauen, müsstest euch anschreien, um den Lärm zu übertönen und würdet zum Kaffee und Kuchen Abgase einatmen. Es ist heutzutage kaum begreiflich, dass Straßencafés unter diesen Bedingungen überhaupt Kund*innen hatten. Aber auch das empfanden die Menschen damals tatsächlich als ganz normal. Auch die vielen Spielstraßen wurden durch die drastische Reduzierung der Pkw ermöglicht. Das Leben von Eltern muss damals schwierig gewesen sein, als Kinder nicht allein auf der Straße vor dem Haus mit Freunden spielen konnten, sondern immer überwacht oder zum nächsten Park oder Spielplatz begleitet werden mussten. Hinzu kommt, dass die Nachbarn sich nun wieder kennen, seitdem die Straßen für Menschen geöffnet wurden und das gesellschaftliche Leben wieder dort stattfinden kann.

 

Spandauer Straße 2010
Spandauer Straße im Jahr 2010 © Jan Evertz
Spandauer Straße 2020
Spandauer Straße im Mai 2020 © Jan Evertz

 

Wenn ich meinen Kindern von den Zeiten vor der Wende in Berlin erzähle, also vor der Verkehrswende meine ich, dann gibt es eine Sache, die sie mir überhaupt nicht glauben. Sie sagen mir dann immer, ich solle das Drama aus den Geschichten lassen und nicht so übertreiben. Das Drama ist aber leider wahr: Vor der Verkehrswende sind jedes Jahr viele Menschen durch Autos verletzt und sogar getötet worden. Meine Kinder glauben mir einfach nicht, dass es erlaubt war, so viele große Maschinen noch schneller als die jetzigen 30 km/h durch die Stadt fahren zu lassen und dass es nicht einmal geschützte Radwege gab. Aus Angst und weil es keinen Platz gab, fuhren außerdem viele Menschen mit dem Rad auf den Gehwegen, wodurch sogar zu Fuß Gehende indirekt durch Autos gefährdet wurden.

Jeden Tag, wenn ich mit meinem Fahrrad über die R100 (ehemals A100) zur Arbeit fahre, wird mir die Absurdität der autogerechten Stadt wieder vor Augen geführt. Die Überdimensionalität und Hässlichkeit der Infrastruktur ist beeindruckend und es läuft mir jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke, wie viele Menschen darunter leiden mussten. Zum Glück wird ein Teil der Autobahnspuren nun Stück für Stück begrünt, denn mit zwei der überbreiten Fahrbahnen ist immer noch genug Platz für alle, egal mit welcher Geschwindigkeit sie unterwegs sind: Kinder, quatschende Omas, rückwärtsfahrende Zwanzigjährige (sieht zwar cool aus, ist aber auf der Straße nicht gerade sinnvoll), aufgemotzte E-Bikes, fast drei Meter breite Lastenräder und natürlich die guten alten ganz normalen Fahrräder.

Noch immer stellen uns die stetig wachsenden Städte vor große soziale und ökologische Herausforderungen. Durch die hohe Lebensqualität Berlins steigt die Zahl der Einwohner*innen rasant an und damit auch die Gefahr von Gentrifizierung und teurem Wohnraum – eine Entwicklung, die wir bisher mit Instrumenten wie dem Mietendeckel glücklicherweise verhindern konnten. Die Berliner Verwaltung musste sich von Grund auf reformieren, um die Umsetzung der Mobilitätsprämie in dieser kurzen Zeit zu meistern. Die an vielen Stellen noch in der Testphase befindliche nachhaltige Infrastruktur muss regelmäßig evaluiert und optimiert werden. Doch Berlin ist auf dem richtigen Weg und verbessert mit seinem visionären und mutigen Handeln nicht nur das Leben aller Berliner*innen, sondern durch seine Vorbildrolle mittlerweile auch das der Bewohner*innen vieler anderer Städte. Es ist wichtig, dass wir uns ab und zu daran erinnern, wie das Auto einst unser Leben beherrscht hat, damit so etwas nie wieder passiert. Aber vor allem sollten wir dankbar sein, in dieser schönen Stadt zu leben. Alles Gute zum zehnjährigen Jubiläum des gerechten, nachhaltigen und menschenfreundlichen Berlins!