Aktivist*innen schaffen einen Pup-Up-Radweg

Ja – nein – vielleicht? Corona-bedingte Einrichtung temporärer Radwege

Ein Artikel von Mascha Dietrich

Die Corona-Pandemie hat das Mobilitätsverhalten der Menschen von einen auf den anderen Tag stark verändert. Der Autoverkehr ging stark zurück und das Fahrrad wird schnell zum Gewinner in Krisenzeiten. Kaum befahrene Straßen lassen Platz für die Einrichtung pandemietauglicher Radwege. Doch nicht überall gelingt die Umsetzung.

Am Anfang ging alles ganz schnell – es schien, als würde „Corona“ der Beginn großer Veränderungen in der Umgestaltung des öffentlichen Straßenraums sein. Denn mit den Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, die im Zuge der Covid-19-Pandemie ab Mitte März in ganz Deutschland verhängt wurden, veränderte sich die Mobilität der Menschen schlagartig: Der Autoverkehr sank in Städten wie Berlin um 20-30 Prozent, in Köln um 50 Prozent und in anderen deutschen Großstädten im Mittel um 40 Prozent. Die Nutzung des ÖPNV brach im Mittel sogar um 70 Prozent ein, was zu einer Verringerung der Taktung in vielen Großstädten führte. Auch der Flugverkehr wurde drastisch eingeschränkt. So hatten die Berliner Flughäfen Tegel und Schönefeld zusammen im Mai mit 51.979 Passagieren so viele wie sonst an einem halben Tag.

Diese teils gravierenden Verkehrseinbußen und Veränderungen in der Mobilität der Menschen hatten sofort messbare und sichtbare Auswirkungen auf die Umwelt. Durch den Rückgang des motorisierten Individualverkehrs beispielsweise sank die Belastung mit Stickstoffdioxid in Berlin um 28 Prozent gegenüber den Vormonaten. Sonst vom Autoverkehr stark frequentierte Straßen blieben auch in der Rush-Hour nahezu leer, und die Lärmbelastung ging im Zuge dessen stark zurück. Entgegen dem rückläufigen Trend des Autoverkehrs stiegen hingegen die Anteile beim Radverkehr. In einer diesbezüglichen Studie vom ADAC gaben sogar 8 Prozent der Befragten an, während der Corona-Krise mehr mit dem Fahrrad zu fahren und für die Zukunft gaben sogar 21 Prozent der Befragten an, mehr Rad fahren zu wollen. In Berlin verzeichneten 13 der 16 automatischen Radzählstellen im April 2020 eine Steigerung des Radverkehrs im Gegensatz zum Vorjahresmonat, wie der „rbb“ am 09. Mai berichtete. 25 Prozent der Befragten der ADAC Studie gaben außerdem an, mehr zu Fuß zu gehen.  

Der reduzierte Autoverkehr während des Lockdowns war auf Deutschlands Straßen deutlich bemerkbar. Mancherorts konnte leicht erahnt werden, wie autoarme und vom Verkehr entlastete Städte aussehen und sich anfühlen könnten. Im Zuge des Klimawandels und dessen Eindämmung durch die Reduktion von klimaschädlichen Treibhausgasen streben viele Städte einen Wandel in der urbanen Mobilität mit nachhaltigen Alternativen wie dem ÖPNV und dem Fahrrad an. Das Bild einer vom Autoverkehr befreiten Stadt entspricht so den Zielen einer ökologisch nachhaltigen Verkehrswende, in der stockender Verkehr und schlechte Luft der Vergangenheit angehören.    

Das Fahrrad wurde in der Krise tatsächlich schnell zum Gewinner bei der individuellen Mobilität. Es ist nicht mehr nur die nachhaltige, ökologische und schadstofffreie Alternative zum Auto, sondern es gilt in Zeiten der Corona-Pandemie auch als sicherer, es verspricht körperliche Aktivität und birgt zudem kaum Infektionsgefahr. 

In Deutschland formierte sich schnell eine Welle der Forderungen nach mehr Raum für das Fahrrad. Das Straßen- und Grünflächenamt im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg machte am 25. März den Anfang mit dem ersten Pop-up-Radweg Deutschlands. Am Halleschen Ufer entstand ein vom Autoverkehr sicher abgetrennter temporärer Radweg. Bis heute (Stand Mitte Juni) wurden in Berlin auf Antrag der jeweiligen Bezirksämter bei der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz 22 Kilometer Pop-up-Radweg genehmigt und vom jeweiligen Garten- und Grünflächenamt umgesetzt. Weitere 25 Pop-up-Radwege sind zudem in Planung. Mit jedem realisierten Abschnitt pandemie-sicheren Radweges, für den jeweils eine Autospur in eine Fahrradspur umgewidmet wurde, ist in Berlin auch ein Abschnitt Verkehrswende realisiert worden. Ohne den Druck und die Unterstützung aus der Zivilgesellschaft wäre der Antrieb zur Umsetzung der Pop-up-Radwege, so die Vermutung, nicht so stark gewesen. Mit der Realisierung der ersten Pop-up-Radwege in Berlin hat Changing Cities die Petition #FaireStrassen initiiert, die deutschlandweit Bürgermeister*innen dazu aufgerufen hat, unverzüglich sichere und ansteckungsfreie Mobilität durch die Einrichtung temporärer Radwege, autofreier Nebenstraßen und innerorts Tempo 30 zu gewährleisten. Diesen konkreten Forderungen haben sich am 14. April 39 Radenscheide und Mobilitätsinitiativen aus ganz Deutschland mit einem offenen Brief an den Bundesverkehrsminister und die jeweiligen Verkehrsminister*innen der Länder angeschlossen, um unverzüglich pandemietaugliche Infrastruktur für den Fuß- und Radverkehr zu fordern. Mit Erfolg?

Neben Berlin wurden nun auch in Stuttgart endlich zwei temporäre Radwege eingerichtet, die bis mindestens Ende Oktober bestehen bleiben sollen. Stuttgart betreibt damit jetzt auf jeweils 700 m und 400 m Länge entlang einer Hauptverkehrsstraße aktive Verkehrswende. Das Projekt, so der Grüne Marcel Roth gegenüber der Zeitung „Stuttgarter Nachrichten“, sei dringend notwendig und könne gerne noch weiter ausgebaut werden. Außerdem seien die Pop-up-Radwege eine Vorschau, wie sich die Stadt mit Hinblick auf die Klimakrise verändern müsse. Thijs Lucas, Sprecher der Initiative Radentscheid Stuttgart, nennt die Maße und die Geschwindigkeit der Durchführung „beispiellos“. 

In München sollen die Markierungsarbeiten für fünf temporäre Radwege ab dem 15. Juni beginnen. Die Abschnitte befinden sich allesamt in der Münchner Innenstadt, wo Radfahrenden in der Corona-Pandemie jetzt mehr Platz eingeräumt werden soll. Verantwortlich für den Beschluss ist hier der Ausschuss für Stadtplanung und Bauordnung. Der Stadtrat hat seit der letzten Kommunalwahl eine Mehrheit der Fahrrad- und Fußgängerfreund*innen, und auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene haben sich die Bürger*innen mit zwei Unterschriftensammlungen zum Radentscheid sehr deutlich positioniert. Nun setzt der Stadtrat die Forderungen des Entscheids um: mehr und breitere Radwege.

In anderen Städten Deutschlands sieht es bei der Umsetzung der pandemietauglichen Radwege bisher eher ernüchternd aus. Viele Städte haben mit einzelnen Protestaktionen oder auch im Rahmen des Pop-up-Bike-Lane-Aktionstags am 23. Mai für mehr Platz auf Radwegen demonstriert, bisher jedoch mit geringem Erfolg. 

Das Ministerium für Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen weist in einer Stellungnahme, zusammen mit dem Deutschen Städtetag und dem Deutschen Städte- und Gemeindebund die Forderungen nach kurzfristig einzurichtenden Fahrradstraßen und Tempo 30 innerorts zurück. Das Ministerium sei nach eigener Aussage nicht ermächtigt, „straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen, wie z. B. die Aufhebung der Radwegebenutzungspflicht, im Einzelfall anzuordnen oder den Städten [...] auf direktem Wege einfallbezogene Weisungen zu erteilen“. Zuständig für die Anordnung solcher Weisungen seien die örtlich zuständigen Straßenverkehrsbehörden. Die Stadt Düsseldorf hat sich das Anordnungsrecht zunutze gemacht, woraufhin die Radwegbenutzungspflicht vielfach aufgehoben werden soll. Auf indirektem Weg wird so den Radfahrenden mehr Raum im Straßenverkehr zuteil, da sie nicht mehr an die Benutzung der Radwege gebunden sind, sondern auch auf die Straße ausweichen können. Zudem wird am 13. Juni eine rund 3 km lange geschützte Radspur (Protected Bike Lane) eingerichtet. In Köln hat ein zweimaliger öffentlicher Protest Wirkung gezeigt, sodass dort eine Autospur dauerhaft dem Radverkehr übergeben wird. Die Radaktivist*innen in Darmstadt gewinnen dieser Tage ebenfalls Oberwasser, nachdem das Urteil gefällt wurde, dass das örtliche Ordnungsamt zumindest die als Demonstration angemeldete Pop-up-Radspur auf eigene Kosten mit Kegeln sichern muss. In Bonn bezieht die Stadtverwaltung Stellung zu einem Bürger*innenantrag für die temporäre Umwandlung von Straßenflächen in Fahrradspuren. Darin erklärt sie, dass es für die Einrichtung von Fahrradspuren großen planerischen Aufwands bedarf und man stattdessen auf eine dauerhafte Verbesserung der Fahrradinfrastruktur setze. 

In vielen Städten anderer Bundesländer bleibt es bisher bei Protestaktionen und Demonstrationen für die temporäre Einrichtung von Pop-up-Radwegen. So wurde in Frankfurt am Main für wenige Stunden eine Pop-up-Radspur eingerichtet, gleiches gilt für Hamburg und Kiel. In vielen Städten berät man währenddessen über die Planung von temporären Radwegen. Oft werden die Forderungen der Bürger*innen mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Aufwand einer Einrichtung nicht zu unterschätzen sei. So heißt es auch in einem Antwortschreiben des Verkehrsministeriums auf einen offenen Brief der Rostocker Initiative „Corona-sichere Rad- und Gehwege“, es gäbe keine Daten, die beweisen, dass in der Corona-Krise mehr Menschen zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs seien. 

Was zu Beginn der Corona-Pandemie nach großen Veränderungen in der Umgestaltung des Straßenraums aussah, hat sich mit der Aufhebung des Lockdowns leider nicht bestätigt. Das Bild autoarmer Innenstädte mit temporär eingerichteten pandemietauglichen Radwegen, wie wir sie auch in New York, Bogota, Paris oder Mexiko City gesehen haben, hat sich in Deutschland nur sehr vereinzelt gezeigt. Einzig Berlin hat in kurzer Zeit eine Vielzahl temporärer Radwege eingerichtet und ist so seinem Ziel, an allen Hauptstraßen eine sichere Radverkehrsanlage einzurichten, ein ganz klein wenig näher gekommen. 

Mit dem Ende des Lockdowns kehren die Autos zurück in die Städte. 2019 haben deutschlandweit 69 Städte den Klimanotstand ausgerufen und sich so zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens bekannt, wozu unter anderem die Verminderung der Treibhausgasemissionen gehört. In Deutschland verzeichnet der Verkehrssektor laut dem Umweltbundesamt von 1990 bis 2016 jedoch einen Anstieg um 2,2 Prozent. Gerade diejenigen Städte, die sich im Zuge des Klimanotstandes zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens verpflichtet haben (dazu zählen unter anderem Berlin, Kiel, Münster, Lübeck, Aachen, Köln und Mainz), könnten mit der Einrichtung temporärer Radwege einen kleinen Beitrag zur Verminderung der Treibhausgasemissionen und einen Schritt in Richtung Verkehrswende bewirken. Mit dem Willen der Politik und Verwaltung, sowie der breiten Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger, die durch die vielen Aktionen und Demonstrationen deutlich sichtbar wurde, ist die Einrichtung pandemie-sicherer Radwege möglich. Denn wo ein Wille zur Veränderung des öffentlichen Straßenraums in Zeiten von Corona ist, da ist auch ein Pop-up-Radweg und wo ein vom Autoverkehr sicher abgetrennter Pop-up-Radweg ist, werden viele Menschen das Fahrrad dem Auto vorziehen. 

 

Links zum Nachlesen

https://www.adac.de/verkehr/standpunkte-studien/mobilitaets-trends/corona-mobilitaet/

https://www.berlin.de/sen/uvk/presse/weitere-meldungen/2020/ist-die-luft-wegen-der-corona-beschraenkungen-besser-geworden-929793.php

https://www.rbb24.de/panorama/thema/2020/coronavirus/beitraege_neu/2020/05/rad-radverkehr-zaehlstellen-berlin-auswertung-daten.html

https://www.umweltbundesamt.de/daten/verkehr/emissionen-des-verkehrs#minderungsziele-der-bundesregierung