Ein Fahrrad geht im Autoverkehr von Oaxaca unter

Fahrradaktivismus im Globalen Süden – ein Blick nach Oaxaca, Südmexiko

Ein Interview mit Benjamin Seidel, geführt von Eva-Maria Graf

Wie sieht Fahrradaktivismus im Globalen Süden aus? Im Interview sprechen wir mit Ben über seine Masterarbeit zu verschiedenen Radkollektiven in Oaxaca, Mexiko. Wir reden unter anderem über Inklusionsaktivismus, Fahrradfahren als ländliches Phänomen und feministische Kollektive, die Fahrradschulungen anbieten. Der Perspektivwechsel birgt einige Überraschungen.

Eva: Lieber Ben, kannst Du Dich kurz vorstellen?

Ben: Ich bin Ben, studiere an der TU Berlin im Master Stadt- und Regionalplanung und war für die Feldforschung meiner Masterarbeit von November bis Mitte Mai in Oaxaca, Mexiko.

Kannst Du kurz zusammenfassen, wie Du auf das Thema gekommen bist?

Mich interessiert nachhaltige Mobilität und ich fahre gern Rad. Ich komme selbst aus dem ländlichen Raum Sachsens und weiß, wie schwer es ist, dort Fahrradaktivismus zu betreiben. Deshalb habe ich mich gefragt, wie Radförderung im ländlichen Raum anderswo aussieht – in Mexiko. Einen Bezug zu dem Land habe ich seit einem Austausch 2014/15. So fiel die Entscheidung, den Fahrradaktivismus in Oaxaca unter die Lupe zu nehmen und mit verschiedenen Kollektiven zu sprechen.

Hast Du eine konkrete Forschungsfrage für Deine Arbeit?

Mein Hauptinteresse lag darin, Perspektiven für eine effektive Radverkehrsförderung in Oaxaca-Stadt aufzuzeigen. Dafür habe ich Interviews und viele Gespräche geführt und den öffentlichen Raum analysiert.

Und was hast Du dabei beobachtet?

Wenn ich den öffentlichen Raum in Oaxaca-Stadt in drei Bereiche einteile – für Fußgänger*innen, Radfahrer*innen und für Kraftfahrzeuge – dann dominiert natürlich wie an den meisten Orten der Welt der „Auto-Raum“. Auf diesen Straßen für Autos finden sich generell weniger gut sichtbare Fahrbahnmarkierungen als wir es von Deutschland kennen, was auch Autofahrenden Probleme bereitet. Die Fahrradinfrastruktur ist sehr wenig ausgebaut, sehr versprengt und nicht flächendeckend vorhanden. Es gibt einen längeren Radweg auf ehemaligen Bahngleisen, aber oft bleiben Fahrradfahrer*innen als Möglichkeiten nur die „Auto-Straßen“ oder die oft sowieso schon abenteuerlich engen und kleinen Fußwege.

Gab es Dinge, die Dich überrascht haben oder die ganz anders laufen als in Deutschland?

Ja! Zuerst einmal, dass der Fahrradaktivismus in Oaxaca sich eher als Inklusionsaktivismus charakterisiert. Die Gruppen setzen sich also nicht nur für Fahrradfahrende ein, sondern dafür, dass verschiedene Menschen Zugang zu Mobilität bekommen oder dass überhaupt Fußwege entstehen.

Auf wen zielt die Inklusion denn ab?

Auf möglichst viele Menschen, die gar nicht oder nur mit Einschränkungen, am Straßenverkehr teilhaben können. Dazu gehören Menschen mit Gehstock oder Menschen mit Sinneseinschränkungen wie etwa Blinde. Die Inklusion zielt auch auf Frauen* ab, die sich auf den vorwiegend männlich dominierten Straßen nicht sicher fühlen. Es geht aber auch generell darum, sozio-ökonomische Unterschiede im Blick zu haben und zu Fuß gehende Personen in all ihren Bedürfnissen mitzudenken, weil die Gehwege eben oft in schlechtem Zustand sind. Aus diesen Gründen haben viele Aktivist*innen, die ich getroffen habe, wenig Verständnis für einen reinen Fahrradaktivismus.

Du sprachst noch von einer zweiten Überraschung?

Die zweite Überraschung für mich war, dass Fahrradfahren vor allem auf dem Land und in den an Oaxaca-Stadt angrenzenden Dörfern verbreitet ist. Während dort 7–20 % der Menschen Fahrrad fahren, sind es in den innerstädtischen Bereichen gerade mal 2–3 %. Obwohl vor allem die reichen Großstädte wie Guadalajara oder Monterrey den Diskurs zu Radverkehrsförderung in Mexiko dominieren, ist es eigentlich die „Peripherie“, die mehr Fahrrad fährt. Das ist definitiv ein Unterschied zu den Großstädten in Deutschland, wenn man* beispielsweise an das Fahrradaufkommen in Berlin-Mitte denkt.

Kannst Du kurz etwas zu den Aktivist*innen und ihrer Zielgruppe, also den Radfahrenden, sagen? Sind sie deckungsgleich? Aus welchem sozialen Milieu kommen sie?

Fast alle Menschen, die in den Gruppen und Kollektiven aktiv sind, haben einen Uni-Abschluss. Was nicht bedeutet, dass sie finanziell sehr gut gestellt sind. Aber der Bildungsunterschied zwischen den politisch aktiven und den nicht aktiven Radfahrenden ist merklich.

Welche Mittel und Methoden nutzen die Aktivist*innen?

Sehr unterschiedliche! Ich würde sie in fünf Kategorien einteilen: Zuerst einmal die öffentlichkeitswirksamen thematischen Rundfahrten oder auch Critical Masses. Als zweites das Empowerment: Aktivist*innen bieten Fahrradlehrgänge, vor allem für Kinder und Jugendliche, oder Aktivitäten in Parks an. Es gibt auch feministische Kollektive wie femicletas oder insolente (Spanisch für „aufmüpfig“), die von begleitendem Fahren bis zu Fahrrad-Selbstverteidigungskursen gegen sexualisierte Übergriffe verschiedene Workshops anbieten. Dann gibt es noch Schulungen und Sensibilisierungen, oft in Kooperation mit der Mobilitätsbehörde des Bundesstaates – beispielsweise für Busfahrer. Busse und Taxis schneiden Fahrradfahrer*innen mit am häufigsten. Durch die Sensibilisierungsmaßnahmen und den Perspektivwechsel zwischen Bus und Fahrrad kann die Gefährdung eingedämmt werden.

Gibt es auch Aktivitäten, die darauf abzielen, neue, fahrradfreundlichere Gesetze zu erlassen?

Genau, das wäre dann die vierte Kategorie: Fahrradaktivist*innen organisieren Runden zu Gesetzes- und Normänderungen sowie Panels und Diskussionen. Aktuell besteht beispielsweise rein rechtlich im Bundesstaat Oaxaca Helmpflicht. Theoretisch könnte die Polizei dir sogar das Fahrrad wegnehmen, wenn sie dich ohne Helm sieht. Das wird zum Glück nicht durchgezogen, aber ist eine der Baustellen. In vielen anderen Städten Mexikos wurde außerdem bereits abgeschafft, dass man* auf der rechten Seite der Autospur fahren muss. In Oaxaca-Stadt hat das noch Bestand. Als letztes gibt es noch den „Taktischen Urbanismus“, also dass Aktivist*innen versuchen, den öffentlichen Raum direkt selbst umzugestalten und für Infrastruktur zu sorgen. Das hat auf jeden Fall eine große Signal- und Symbolwirkung. Leider sind die Farben bislang oft sehr schnell verblasst, sogar von den Markierungen, die von der Mobilitätsbehörde selbst gesetzt wurden.

In Deutschland ist der Fahrradaktivismus sehr männlich geprägt. Wie ist das in Oaxaca? Und wie sieht dort die Geschlechterverteilung unter den Fahrradfahrenden aus?

Die Zahl der Radfahrer und Radfahrerinnen ist statistisch leider sehr wenig erfasst. Aber den meisten Schätzungen zufolge befindet sich unter zehn Radfahrenden nur eine Frau. Generell würde ich sagen, dass der Straßenraum eher von männlich gelesenen Personen geprägt ist. Bei den Aktivist*innen habe ich beobachtet, dass die Geschlechterverteilung beispielsweise beim größten Bündnis Oaxaca por la Movilidad (Spanisch für: Oaxaca für Mobilität) relativ ausgeglichen ist. Die Rechte von Frauen* und Themen wie Sorge-Arbeit und Inklusion spielen insgesamt eine große Rolle. Rundfahrten, Empowerment, Sensibilisierungsworkshops,

Diskussionsrunden und Taktischer Urbanismus – da gibt es ja eine richtige Bandbreite an Ansätzen. Welchen Schwierigkeiten stehen die Aktivist*innen gegenüber?

Was viele Menschen in Deutschland vielleicht nicht wissen: Mexiko ist der viertgrößte Autoexporteur weltweit. Und der staatliche Erdölriese PEMEX ist aktuell wirtschaftlich noch sehr wichtig für das Land. Wir haben also auch hier Beharrungskräfte, die sich nicht vom Erdöl weg bewegen möchten. Dann ist das Auto als Symbol nochmals stärker mit Status und Wohlstand konnotiert. Weniger Menschen besitzen eins. Aber umso mehr wollen es auch viele. Dabei wäre das Fahrradfahren mit mehr geschützten Radstreifen eigentlich überall außerhalb der Sierra eine super Option der Fortbewegung. Meine Hoffnung ist, dass das noch mehr Menschen erkennen, vor allem aber die Politik!

Wie sieht es denn mit der Zusammenarbeit mit der Politik aus?

Die bundesstaatliche Verkehrsbehörde Oaxacas wurde erst vor kurzem in Mobilitätsbehörde umbenannt und möchte nun vermehrt auch Fuß- und Radverkehr fördern. Bis dahin lag ihr Fokus vor allem auf Schwertransport und ÖPNV. Die sind in der Theorie also inzwischen interessierter als vorher. Allerdings müssten sie dann auch mit der viel größeren Infrastrukturbehörde zusammenarbeiten. Aber die agiert aktuell komplett unabhängig und lässt sich kaum in die Karten schauen. Ohne sie wird es allerdings keine Infrastruktur geben. Das ist gerade noch ein bisschen kompliziert (lacht).

Und abschließend, aus deiner Perspektive: Was können wir hier im Globalen Norden von den Fahrradaktivist*innen in Oaxaca lernen?

Ich denke, wir können viel von dem Inklusionsfokus der Aktivist*innen auf Menschen mit Bewegungs- und Sinneseinschränkungen und Fußgänger*innen allgemein lernen. Und auch, die „sozio-ökonomische Brille“ aufzusetzen.  Denn ja, „bike lanes“ sind leider oft „white lanes“ und können weitere Verdrängung mit befeuern, wenn eine soziale Wohnungspolitik fehlt. Aber genau deshalb sollten wir im Fahrradaktivismus genauer hinschauen: Wer fährt wo Fahrrad und wer auch nicht, weil er oder sie eben weiter draußen wohnt oder auch die Kombination aus Öffis und Rad nicht stimmig ist? Wer ist in unseren Kreisen aktiv? Und wer nicht? In den letzten Jahren ist nach meiner Beobachtung viel über Sicherheit und Emissionsreduktion diskutiert worden. Die soziale Ebene dürfen wir aber nicht vergessen.