Kartendarstellung des HappyBikeIndex

Digitale Lösungen für eine bessere Radinfrastruktur

Für eine breite Beteiligung von Radfahrenden und anderen Verkehrsteilnehmer*innen an der Gestaltung der ökologischen Mobilitätswende werden zunehmend digitale Hilfsmittel eingesetzt. Damit können Bürger*innen den Bau- und Planungsfortschritt neuer Radinfrastruktur im Netz verfolgen und so den Handelnden auf die Finger schauen. Für Berliner Straßen wird der Happy-Bike-Index (HBI) berechnet, der die Attraktivität für den Radverkehr anzeigt und so helfen kann, möglichst sichere Wege einzuschlagen. Gefahrenstellen für Radfahrende können online gemeldet und für alle ersichtlich auf einer Karte eingezeichnet werden. Wissenschaftler*innen entwickeln Sensoren und Apps, mit denen Gefahren im Straßenverkehr gemessen und ausgewertet werden können. Und die Petition #FaireStraßen von Changing Cities mobilisiert aktuell online für mehr Platz für Rad- und Fußverkehr in Zeiten von Corona. Dieser Artikel stellt Beispiele vor, wie die Digitalisierung die Verkehrswende vorantreiben kann.

Ein Beitrag von Rinus Heizmann

In vielen deutschen Städten wird an einer Verbesserung der Radinfrastruktur gearbeitet, oftmals vorangetrieben von Radentscheiden, anderen Initiativen der Zivilgesellschaft und der Notwendigkeit einer ökologischen Mobilitätswende. Doch mit ein paar neuen Radwegen ist es meistens nicht getan. Um möglichst viele Nutzer*innen der Radverkehrsinfrastruktur zu informieren und zu vernetzen sowie ihre aktive Beteiligung und direkte Einflussnahme zu ermöglichen, werden zunehmend smarte Online-Tools entwickelt.

#FaireStraßen: Mehr Platz für den Rad- und Fußverkehr in Zeiten von Corona

Derzeit verlagert sich politischer Aktivismus notgedrungen vielerorts in das Internet. Changing Cities startet eine Kampagne für sichere und ansteckungsfreie Mobilität zur Unterstützung der Notfallmaßnahmen im Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie. Die Petition #FaireStraßen fordert die Einrichtung autofreier Nebenstraßen, die nur von zu Fuß gehenden und Radfahrenden genutzt werden dürfen, um konsequentes “Physical Distancing” zu ermöglichen. Provisorische Fahrspuren sollen zu Radstreifen umgewandelt werden und so sicheres Fahrradfahren möglich zu machen, wie es bereits auf ersten Straßen in Berlin oder auch in Bogota praktiziert wird Senkung der Unfallzahlen und damit zur Entlastung der Krankenhäuser wird innerorts Tempo 30 gefordert. Größere autofreie Shared Spaces sind nötig für individuelle physische Betätigung an der frischen Luft zur stärkung des Immunsystems und für das geistige Wohlbefinden. In Teilen New York wurden bereits Straßen tagsüber zu Fußgängerzonen umgewandelt. Eine weitere Forderung ist das Einrichten von Kiezblocks - eine Öffnung von Wohngebieten für den Radverkehr durch eine temporäre Umwandlung der Straßen in Fahrradstraßen und den Ausschluss von Durchgangsverkehr.  Die Unterzeichner der Petition sind weiterhin dazu aufgerufen, die lokalen Verwaltungen zu unterstützen und geeignete #FaireStraßen vorzuschlagen. Neben Petitionen gibt es jedoch eine Reihe weiterer digitaler Lösungen, die eine besseren Radverkehrsinfrastruktur voranbringen können, wie dieser Artikel zeigt:

Transparente Radverkehrsplanung

Daten zur Radverkehrsplanung werden bislang kaum veröffentlicht oder sind schwer zu finden und wenig übersichtlich aufbereitet. Dabei ist ein Open-Data-Ansatz  für Transparenz und Beteiligung essenziell. In Berlin hat das Startup FixMyBerlin eine Reihe von Informations- und Beteiligungs-Tools entwickelt, die auf einer kartenbasierten Online-Plattform für alle zugänglich sind. Auf diese Weise entsteht eine Schnittstelle zwischen Verwaltung und Bürger*innen für einen konstruktiven Dialog: Die Berliner Senatsverwaltung und die Bezirksämter veröffentlichen ihre Radverkehrsplanungen, die in einer Karte aufbereitet werden. Für jedes Vorhaben kann eine Detailansicht mit den Zielen und Hintergründen der Maßnahmen, dem Baufortschritt und der geplanten Fertigstellung geöffnet werden. Damit werden die Fortschritte bei der Umsetzung des Mobilitätsgesetzes transparent, verständlich und nachvollziehbar. Nutzer*innen der Radinfrastruktur wiederum können etwa den Bedarf an Fahrradabstellbügeln melden und unterstützen so die gezielte Planung weiterer Maßnahmen.

Wie sicher sind die Straßen?

Über den Zustand der existierenden Radinfrastruktur informiert eine weitere Karte mit einer grafischen Darstellung des Happy-Bike-Index (HBI), der derzeit in einer Beta-Version veröffentlicht wird. Es handelt sich dabei um eine Berechnung, wie sicher der Radverkehr auf einer Strecke gegenüber dem motorisierten Individualverkehr unterwegs ist. In die Berechnung fließt ein, wie stressig und gefährlich der Kfz-Verkehr auf einer Straße ist, basierend auf den Indikatoren “zugelassene Höchstgeschwindigkeit” und “tägliches Verkehrsaufkommen”. Außerdem wird betrachtet, wie viel Schutz die vorhandene Radinfrastruktur vor dem Autoverkehr bietet: Existiert eine zusammenhängende Radinfrastruktur? Sind die Radwege baulich von der Straße getrennt? Auf welche Weise sind Radspuren markiert? Werden sie auch von anderen Verkehrsteilnehmern genutzt, etwa Linienbussen? Die beiden Faktoren, also Gefährlichkeit des Verkehrs und Schutzwirkung der Infrastruktur, werden miteinander verrechnet. Das Ergebnis ist eine bunte Straßenkarte, die sichere Radwege in Grün und gefährliche in Rot auszeichnet. Die Kartendarstellung des HBI und der Radverkehrsplanung sind miteinander verbunden, damit Ist-Zustand und Planung miteinander verglichen werden können.

Karten voller Problemstellen

Nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Städten können Radfahrende im Netz einen Blick auf eine Karte werfen, um gefährliche Orte im Straßenverkehr zu identifizieren. Aktivist*innen des Radentscheids Würzburg haben dazu ein Online-Tool entwickelt, in dem die Nutzer*innen Stellen melden können, die für den Radverkehr problematisch sind. Eine Meldung erfolgt möglichst inklusive Foto und Beschreibung des Problems sowie eines Lösungsvorschlags. Zum einen werden so andere Radfahrende gewarnt und können die gefährlichen Stellen meiden. Zum anderen schafft eine solche Visualisierung ein Bewusstsein für Missstände in der Radinfrastruktur. So kann öffentlicher Druck auf handelnde Personen, etwa in der Verwaltung, aufgebaut werden. In Würzburg meldeten Bürger*innen bisher 176 Problemstellen . Der Code für das Tool ist frei verfügbar, andere Städte können es also auch nutzen. In Stuttgart etwa sind in der Schwachstellenkarte des Radforums Zweirat Stuttgart bereits 86 Einträge zu finden.

Citizen Science: Von Abstandsmessungen und Beinahe-Unfällen

Um gefährliche Situationen für Radfahrende im Straßenverkehr detaillierter zu untersuchen, haben Forscher*innen weitere technische Lösungen entwickelt. Eine solche Lösung sind Abstandssensoren, die für jeden Überholvorgang den Abstand eines überholenden Autos zu den Fahrrädern der 100 Testfahrer*innen aufzeichnen. Die im Rahmen des Projekts „Radmesser“ der Berliner Tageszeitung Der Tagesspiegel entwickelten Sensoren lieferten auf 13.300 Kilometern erschreckende Ergebnisse: Bei weniger als der Hälfte aller erfassten Überholvorgänge wurde der vorgegebene Abstand von 1,5 Metern eingehalten, in 18 % der Fälle lag dieser sogar unter einem Meter. Um solche Messungen auch in anderen Städten zu ermöglichen, arbeitet Zweirat Stuttgart an einem quellenoffenen, vom Berliner Radmesser inspirierten Sensor, dem OpenBikeSensor. Wenn so gefährliche Begegnungen von Auto und Fahrrad besser sichtbar werden, könnte der Druck steigen, zu enges Überholen zu sanktionieren und eine für alle sichere Verkehrsinfrastruktur zu schaffen. Eine andere Möglichkeit dafür entwickelt das Projekt SimRa der TU Berlin.  Die gleichnamige App erfasst Gefahrenmomente für Radfahrende. Nutzer*innen der App in Berlin und fünf Partnerregionen zeichnen ihre Fahrten mittels GPS auf. Dabei werden die Beschleunigungssensoren des Smartphones genutzt, um beispielsweise plötzliches Ausweichen, scharfes Bremsen oder Stürze zu erfassen. Nach der Fahrt können die Gefahrensituationen kommentiert und pseudonymisiert zum Upload freigegeben werden. Die gewonnenen Daten ermöglichen einen Überblick über gefährliche Situationen im Radverkehr. Zudem können ungünstige Verkehrsflüsse oder Ampelschaltungen ermittelt werden, um das Fahrradfahren in Zukunft attraktiver zu machen.  

Wie soll der Verkehr von morgen aussehen?

Neben den Problemen für Radfahrende von heute stellt sich die Frage, wie wir uns den Verkehr von morgen vorstellen. Auch dafür gibt es digitale Beteiligungsmöglichkeiten, wie etwa die Umfrage „Berliner Straßencheck“, ebenfalls ein Projekt von FixMyBerlin in Kooperation mit dem Tagesspiegel. Die Teilnehmenden werden auf ihr eigenes Mobilitätsverhalten und ihre Einschätzungen der bestehenden Infrastruktur sowie deren größte Missstände hin befragt. Um herauszufinden, welche Radinfrastruktur die Berliner*innen als unangenehm oder unsicher empfinden, können verschiedene simulierte Straßen, Radwege und Verkehrssituationen bewertet werden. Damit soll den Entscheider*innen bei der Umsetzung des Mobilitätsgesetzes geholfen werden. 

So kann die Verkehrswende also sogar aus der häuslichen Quarantäne vorangebracht werden. Ob unterwegs auf dem Rad oder zu Hause vor dem Computer- mit digitalen Tools können wir uns alle für eine bessere und sicherere Radinfrastruktur einbringen: Sei es per Tracking-App, mit Hilfe selbstgebauter Sensoren oder indem wir Gefahrenstellen auf Karten kenntlich machen und den Verantwortlichen dabei zuschauen, was sie im Sinne der Gefahrenminimierung tun – oder tun sollten. Oder ganz aktuell mit einer Unterschrift für die von Changing Cities ins Leben gerufene Petition #FaireStraßen für eine sichere und ansteckungsfreie Mobilität in Zeiten von Corona. 

Weiterführende Links:

https://changing-cities.org/fairestrassen/ 

https://fixmyberlin.de/

https://www.radentscheid-wuerzburg.de/problemstellen/

https://interaktiv.tagesspiegel.de/radmesser/

https://zweirat-stuttgart.de/projekte/openbikesensor/

https://www.mcc.tu-berlin.de/menue/forschung/projekte/simra/

https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/strassencheck/