KidicalMass in Aktion

Wie können Städte Kindern gerecht werden?

Eine Übersicht von Rinus Heizmann

Unsere Städte wurden für eine automobile Gesellschaft geplant und gebaut. Radfahrende „erfahren“ diesen Designfehler beinahe bei jeder Fahrt. Während das Fahrrad bereits für genug Erwachsene aus Angst vor dem motorisierten Verkehr in urbanen Zentren keine Option darstellt, ist die Situation für Kinder noch dramatischer. Wohl auch deshalb geht die eigenständige Mobilität von Kindern seit Jahrzehnten deutlich zurück, Stichwort “Elterntaxi”. Dabei können gerade Kinder der Welt zeigen, wie es besser geht, wie eine fünfzehnjährige Schülerin aus Stockholm in der Klimapolitik eindrücklich bewiesen hat. Aus Kindern auf Fahrrädern werden erwachsene Radfahrende, wenn sie bereits früh positive Erfahrungen auf dem Rad machen und keine Angst damit assoziieren. Die Verkehrsverhältnisse, die wir unseren Kindern heute bieten, können also entscheidend dazu beitragen, wie die Nutzungsanteile verschiedener Verkehrsmittel künftig aussehen. Und auch über das Thema Mobilität hinaus sind sich Experten einig, dass die Städte der Zukunft enorm davon profitieren, wenn die Belange von Kindern bei der Stadtplanung besser berücksichtigt werden.  

Zurück zum Verkehr: Laut UNO-Konvention über Rechte des Kindes haben alle Kinder einen Anspruch auf eine menschenwürdige gesunde Entwicklung. Doch die Situation in Städten wird diesem Anspruch nicht gerecht und behindert die eigenständige Mobilität der Kinder: Verkehr und Siedlungsstrukturen sind auf eine automobile Gesellschaft ausgerichtet. Lärm und Abgase beeinträchtigen Gesundheit und Entwicklung. Weil Kinder und Jugendliche ihre selbstständigen Wege überwiegend zu Fuß und mit dem Rad zurücklegen, wird ihre Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt. Auch Eltern schätzen die Gefahr für ihre Kinder als sehr hoch ein: Verkehrsunfälle werden regelmäßig an erster Stelle genannt auf die Frage, was ihnen am meisten Angst macht. Daher werden Kinder zunehmend mit dem Auto zur Schule oder zu Freizeitaktivitäten gebracht, was zu einem Teufelskreis aus immer mehr Verkehr und immer mehr verkehrsbedingten Risiken führt.

Dabei hat eigenständiges Radfahren für Kinder viele Vorteile. Maud de Vries, Mitgründerin des sozialen Unternehmens BYCS aus Amsterdam und Initiatorin des Bicycle Mayors Programms, zählt einige auf: Kinder werden schneller selbstständig und gewinnen an Flexibilität, wenn sie sicher allein unterwegs sein können. Neben den offensichtlichen gesundheitlichen Vorteilen des Radfahrens betont de Vries die positiven Auswirkungen auf die mentale Entwicklung, wenn Kinder auf eigene Faust ihre Stadt entdecken können. Davon profitieren Eltern ebenfalls, die mehr Zeit für sich und weniger Sorgen um ihre Kinder haben. Auch auf dem Schulweg hat die Fahrradnutzung positive Auswirkungen: Die Entwicklung der motorischen Fähigkeiten wird gefördert und das Selbstvertrauen wird gestärkt. Zudem wird das selbstständige Bewegen im Straßenverkehr geübt, denn echte Verkehrserfahrung kann weder in der Theorie noch im geschützten Raum, etwa bei Fahrradtrainings, erworben werden.

Um Städte und insbesondere Verkehrsinfrastruktur kindgerecht zu gestalten, müssen zuerst die Anforderungen klar benannt werden. Wichtig dabei ist die Feststellung, dass Straßenflächen für Kinder Spiel- und Lebensraum sind und die meisten Wege der Kinder ihre Schul-, Spiel- und Lernwege sind. Aus Sicherheitsgründen notwendig sind deshalb sichere Querungsstellen, also Zebrastreifen und Ampeln, und die Vermeidung von Sichthindernissen, wie parkenden Autos und Hecken. In Wohngebieten sind separate Fußwege und Spielstraßen nötig. Zudem müssen Gehwege breit genug sein und das Radwegenetz ausgebaut werden. Auch rücksichtsvolles Verhalten anderer Verkehrsteilnehmenden, insbesondere von Autofahrer*innen, ist essenziell, erklärt die Planungsexpertin Juliane Krause vom Planungsbüro plan&rat aus Braunschweig, die zur Integration der Belange von Kindern in die Verkehrsplanung forscht.

Sind Kleinkinder mit ihren Eltern unterwegs, bestimmt auch die (Verkehrs-)Umwelt darüber, ob Eltern mit ihren Kindern interagieren können oder ob sie dauerhaft Gefahren abschätzen müssen. Da diese frühkindliche Interaktion besonders wichtig für die gesunde Entwicklung ist, hat sichere Verkehrsinfrastruktur mit Fokus auf die Kleinsten eine besondere Bedeutung. Neben dem dominierenden Sicherheitsaspekt muss der öffentliche Raum auch spannend gestaltet sein. Das ist das Ergebnis einer Studie der Künstlerin und Designerin Ivona Pelajic, die untersucht hat, wie Kinder zu eigenständiger Mobilität motiviert werden können. Da ihr Untersuchungsgebiet Göteborg über eine relativ sichere Verkehrsinfrastruktur verfügt, lag ihr Fokus auf Skulpturen und begehbaren Installationen im Straßenbild, um Mobilität interessanter zu machen und die Lust am Entdecken zu wecken. Denn alles ist für Kinder ein potenzielles Lernerlebnis, wenn es interessante Dinge zum Anschauen und Anfassen gibt. Pelajic resümiert: Sicherheit ist nicht alles, der öffentliche Raum braucht auch Inhalte für Kinder.

Wie lassen sich aus diesen Anforderungen Grundsätze für die Planung von Verkehrsinfrastruktur herleiten? Für Steffen Brückner, Mitinitiator der KidicalMass-Bewegung, gibt es eine einfache Prämisse, an der Planer*innen sich orientieren können: Würde ich meine Kinder hier alleine Fahrrad fahren lassen? Stadtplanerin Krause hingegen zählt konkrete Maßnahmen auf: Eine Reduktion des Autoverkehrs, insbesondere in Wohngebieten, kein Parken auf Gehwegen und eine Entschleunigung durch flächendeckende Tempo-30-Zonen schaffen kindgerechte Verkehrsinfrastruktur. Darüber hinaus rät Krause zum Konzept der Spielraumvernetzung. Für Kinder wichtige Orte wie Schulen, Spielplätze, Sportanlagen, Freizeiteinrichtungen und Einkaufsmöglichkeiten müssen verbunden sein, etwa durch Fahrradstraßen, verbundene Grünzonen und autofreie Hauptverbindungen. Dieses Netz muss durchlässig sein, etwa durch eine Öffnung von Einbahnstraßen, die Weiterführung von Sackgassen oder eine zeitliche Öffnung von Fußgängerzonen für den Radverkehr. Eine weitere Option stellen Radschulwegpläne dar, also die Einrichtung und Empfehlung von sicheren Routen zur Schule inklusive markierter Gefahrenstellen.

Maud de Vries formuliert einen denkbar einfachen Grundsatz: Planung sollte Flächen umwidmen, weniger Autoverkehr und mehr Platz für Fahrräder in den Städten schaffen. Außerdem müssen die Belange von Kindern bei allen städtebaulichen Planungsprozessen, nicht nur in der Verkehrsplanung, mitgedacht und in das Zentrum der Planung gestellt werden. De Vries ist überzeugt, dass Städte auf diese Weise für alle Menschen lebenswerter werden, da alle von weniger Stau, einer höheren Aufenthaltsqualität, weniger Abgasen und weniger Lärmbelästigung profitieren. Als warnendes Beispiel schildert sie ihre Heimatstadt Amsterdam, eigentlich ein Fahrrad-Eldorado, wo zwar 70 % aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden, aber nur 11 % der Straßenfläche für Fahrräder zur Verfügung steht. Die Beteiligung von Kindern an der Verkehrsplanung nutzt also allen Menschen, wird aber nur selten umgesetzt. Dabei gibt es vielfältige Beteiligungskonzepte für Kinder. Insbesondere spielerische und kreative Methoden bieten sich an, etwa Modellbau oder ein Stadtspaziergang. Wichtig sind der unmittelbare Bezug zur Erlebniswelt der Kinder, ein konkreter, begreifbarer Planungsgegenstand sowie Transparenz und Zeitnähe der Umsetzung. Einen interessanten Ansatz dazu verfolgt die slowakische Initiative KidSizedCities, auf deren Website Kinder in kleinen Computerspielen und einer Umfrage ihre Vision von kindgerechten Städten ausdrücken können.

Auch andere Aktivist*innen und Initiativen widmen sich dem Kampf für kindgerechte Verkehrsinfrastruktur und urbane Räume. Besonders aktiv in Deutschland ist das Bündnis “KidicalMass”, initiiert von Simone Kraus und Steffen Brückner aus Köln. Bei einer KidicalMass handelt es sich um eine Kinderfahrraddemonstration, ganz ähnlich einer Critical Mass, die sich an den Anforderungen der kleinsten Radfahrenden und ihren Bezugspersonen orientiert und von der Polizei gesichert wird. Kinder werden so für das Radfahren begeistert und ermutigt, in Zukunft öfters aufs Rad zu steigen. Der bundesweite Aktionstag des Bündnisses im März fiel leider der aufkeimenden Corona-Pandemie zum Opfer. Ein neues Aktionswochenende ist für den 19./20. September geplant. Interessierte können sich auf kinderaufsrad.org auf dem Laufenden halten und selbstverständlich eine eigene KidicalMass in ihrer Stadt organisieren. Natürlich haben die Aktivist*innen auch konkrete Forderungen: Alle Kinder und Jugendliche sollen sich sicher und selbstständig mit dem Fahrrad in der Stadt bewegen können. Dies kann durch Tempo 30 für sicheren Straßenverkehr innerorts und ein sicheres Schulradwegenetz, etwa durch die Umwandlung von Nebenstraßen zu Fahrradstraßen, erreicht werden. Zudem sollen alle Menschen angstfrei Rad fahren können. Dafür müssen neue Infrastruktur geschaffen und Flächen umgewidmet werden.

Zum Ende dieses Artikels möchte ich den Blick auf zwei Städte richten, die mit gutem Beispiel vorangehen. Da ist zum einen Utrecht, wo Autos konsequent zugunsten von Fahrrädern aus der Innenstadt verdrängt wurden und die Radinfrastruktur massiv ausgebaut wurde, inklusive des weltgrößten Fahrradparkhauses am Hauptbahnhof. Dort, wo Autos doch noch unterwegs sind, stellen sie sich selbstverständlich hintenan – ein ganz anderes Mindset als hierzulande. In diesem fahrradfreundlichen Umfeld bewegen sich sogar dreijährige Kinder angstfrei und fröhlich auf dem eigenen Fahrrad fort, wie Steffen Brückner aus eigener Erfahrung schildert. Andere Innovationen sind in Wien zu bewundern. Dort wurde das erfolgreiche Projekt “Schulstraßen” gestartet und wissenschaftlich begleitet. In den 30 Minuten vor Schulbeginn und nach Schulschluss werden Straßen im Umfeld der Schulen temporär für Autos gesperrt. Die Schüler*innen kommen so sicherer ans Ziel und viele steigen vom Elterntaxi auf das Rad um oder gehen zu Fuß. Die Ideen für kindgerechte Fahrradstädte sind also vorhanden – sie müssen nur noch umgesetzt werden.

 

Foto: Sebastian Peter