Purple Ride

Zehn Frauen reden über Fahrrad, Freiheit und Feminismus

Sind Frauen* und Männer* auf Berlins Straßen heutzutage komplett gleichgestellt? Wie fühlt sich Radfahren aus der Frauen*perspektive an? Wenn Frauen* unsere Städte geplant hätten, wie würden sie aussehen? Über diese und andere spannende Fragen unterhielt ich mich mit zehn inspirierenden Frauen, die sich für eine bessere Mobilität einsetzen. Alle beschrieben sie mir sehr ähnliche Visionen ihrer Stadt der Zukunft. Anhand von Porträts dieser unterschiedlichen Frauen entsteht das Gesamtbild eines menschlichen und nachhaltigen Miteinanders im urbanen Raum.

Ein Beitrag von Antje Heinrich

Noch vor nicht viel mehr als 100 Jahren galt Fahrradfahren für Frauen* als unsittlich, unweiblich und sogar ungesund. Ärzte rieten dem weiblichen Teil der Bevölkerung sogar dringend davon ab. Das ist heute kaum mehr vorstellbar und die damals hervorgebrachten Argumente sind rückblickend völlig absurd und lächerlich. Dennoch mussten sich Frauen* zu jener Zeit ihr Recht auf diese Art der Fortbewegung hart erkämpfen und das Radfahren wurde zum Symbol der Emanzipation. Heute sind Rad fahrende Frauen* in Deutschland Normalität und alle Geschlechter sind formal gleichberechtigt. Jedoch sind formale Rechte nicht gelebte Realität und Diskriminierung von Frauen* existiert noch immer, nur versteckter und in anderer Form. Am Ende geht es jedoch nicht darum, Männer* und Frauen* gleich zu machen, sondern deren unterschiedlichen Bedürfnisse zu berücksichtigen.

Felicitas nennt das „radikal inklusiv“. Für sie ist das Ideal von urbaner Mobilität „smart, fair und, um das sein zu können, feministisch*. Das bedeutet aus ihrer Sicht „eine gemeinwohlorientierte Infrastruktur mit Fußgänger*innenfreundlichen Ampelschaltungen, Verkehrsberuhigungen, einer geschützten und weiträumigen Radinfrastruktur und gelungenen Aufenthaltsorten mit aussichtsreichen Sichtachsen, selbstverständlich fernab von Karosseriepanoramen und Abgasen.“

 

Felicitas Soeiro
Felicitas Soeiro beschreibt sich als Mama, Feministin und Fotografie­designerin. Als Netzwerk­aktivistin wirkt sie in den Bereichen Projektentwicklung und Prozessoptimierung. Sie stellte beispielsweise Adhoc Berlin auf die Beine, eine Art Metanetzwerk, um Akteure aus Zivilgesellschaft, Kunst und Politik zu verbinden. Mit Adhoc Berlin, RadXhain und Changing Cities wurde letztes Jahr das Parklet-Festival NoParkingOnTheDancefloor ausgerichtet, das sich für den Erhalt von Aufenthaltsorten im Sinne einer Flächengerechtigkeit im öffentlichen Raum starkgemacht hat. Im Rahmen dieser Netzwerkarbeit war sie außerdem Mitinitiatorin von Fem|m* (fem-mo.de) - feministische Mobilität, einer Initiative, die eine radikal inklusive Mobilitätspolitik einfordert, motorisierte Verkehrsstandards grundlegend hinterfragt und das Potential hat, paritätische Verhältnisse in der Verkehrsplanung zu forcieren.

 

Ihr Mobilitätsverhalten beschreibt Felicitas als Langstreckenfußgängerin: „Die Leute, die mich begleitet haben, fingen irgendwann an vor den Spaziergängen Dauer und Angabe des Zielortes zu erfragen, ich habe es wohl übertrieben. Noch vor einem Jahr ließ sich dieses „Hobby“ entspannt mit Kind in der Trage vereinbaren. Wir sind häufig von Neukölln nach Charlottenburg gelaufen. Heute schiebe ich einen Buggy vor mir her, ein Umstand, der mich schnell auf die absurde Verkehrsinfrastrukturen aufmerksam gemacht hat und mein Bedürfnis nach Raum im öffentlichen Raum mitbegründet.“

Einer der Aspekte, der bei Mobilitätsplanung oft nicht mitgedacht wird, ist die Fortbewegung mit einem Kinderwagen auf ohnehin schon zu schmalen Fußwegen, die dazu noch durch falsch parkende PKWs, E-Roller und Sperrmüll blockiert sind. Dieser Umstand trifft natürlich sowohl Frauen* als auch Männer*, die Kinderwägen oder Rollstühle schieben. Statistisch gesehen sind es jedoch noch immer zum Großteil Frauen*, die sich um Kinder und Ältere kümmern. Die Hälfte der Bevölkerung sind Frauen*, trotzdem wurden und werden Städte mehrheitlich von Männern* geplant. Ohne, dass es bewusst oder aus egoistischer Absicht geschehen sein muss, sind unsere heutigen Städte dennoch aus der Perspektive und folglich für die Bedürfnisse nur einer Hälfte der Bevölkerung geplant worden: Männer*. Dabei geht es weder um Frauen* gegen Männer* noch darum, dass Frauen* Städte von nun an allein planen sollten. Es geht darum, dass die Diversität der Bevölkerung auch in der Planung repräsentiert sein sollte. Wenn Mobilität alle berücksichtigen soll, das heißt Frauen*, Männer*, Kinder, ältere Menschen, Menschen verschiedener Kulturen, Menschen mit Behinderung…, dann müssen auch all diese Gruppen schon bei der Stadtplanung mit einbezogen werden.

Inge ist seit fast 19 Jahren Mutter und erklärt: „Sensibilisiert für Umweltthemen wird man als Mutter quasi biologisch. Es fällt schon schwer, Kinder in der autogerechten Großstadt auf die Straße zu lassen. Luftqualität und Verkehr empfinden Mütter meines Erachtens noch stärker als Bedrohung von Leib und Leben“. 

 

Inge Lechner
Inge Lechner war bevor sie Mutter wurde in erster Linie Indivi­dualistin. Nach einer langen Findungsphase, in der sie unter anderem bildende Kunst und Kunst im Kontext studierte, ist sie nun seit einiger Zeit Lebenskundelehrerin. In diesem Zusammenhang ist sie auch wieder zum politischen Aktivismus gekommen. „Denn das Fragen nach dem guten Leben mündet ja zwangsläufig in die Frage nach dem Zusammenleben, nach Gerechtigkeit und nach dem öffentlichen Raum… und in einer Stadt wie Berlin ist dann sehr schnell klar, dass es da noch viel zu tun gibt.“, beschreibt sie ihre Motivation. Ehrenamtlich ist Inge bei Changing Cities im Bereich Kommunikation und in den Fahrradfreundlichen Netzwerken Friedrichshain-Kreuzberg und Lichtenberg aktiv - dies vor allem auch im Sinne der Verbindung der Kieze.

 

Inge weist außerdem auf mögliche Unterschiede zwischen den Generationen hin: „Dadurch, dass ich 1963 geboren bin, also als ein Wirtschaftswunder-Nachkömmling, habe ich Emanzipation zwar als Thema inhaliert, aber trotzdem oft als Wettbewerb verstanden – ich wollte auch das können und dürfen, was Jungen tun. Dass es systemische Bedingungen gibt, die sehr viel weitreichender sind als die schlichte Erlaubnis etwas zu tun, war mir lange nicht klar.“ 

Auch mit Katja unterhielt ich mich viel über die Diskrepanz zwischen formalen Rechten und gelebter Wirklichkeit: „Wir haben alle noch nicht, Männer* als auch Frauen*, das Selbstbewusstsein, uns nicht über Status zu definieren. Wir als Frauen* sollten den Teufel tun, die männliche Mobilität nachzuahmen. Auch Frauen* in Führungspositionen gönnen sich dann den großen Dienst-PKW, weil es einfach so üblich ist.“ 

 

Katja Diehl
Katja Diehl war schon immer an Nachhaltig­keits­themen interessiert. Sie ist gelernte Journalistin und war nach dem Studium zunächst für die dpa tätig. Sie begann dann in der Kommunikation und im Marketing für Mobilitäts- und Logistikunternehmen zu arbeiten. Sie ist in Teilzeit in der PR für ein Ridepooling-Algorithmus-Unternehmen tätig, das mit Verkehrsunternehmen zusammenarbeitet. Außerdem ist sie mehrfach ausgezeichnete Kommunikations- und Unternehmensberaterin im Bereich Mobilität und bietet Schulungen für Influencer sowie Mentoring und Beratung für junge weibliche Führungskräfte an. Sie hostet alle 14 Tage den Podcast #SheDrivesMobility (katja-diehl.de/sdmpodcast). Katja engagiert sich zudem im Bundesvorstand des VCD. 

 

Katja ist überzeugt, dass man die beste Stadt bekommt, wenn alle sie planen: „Frauen* machen nichts besser, aber sie machen etwas anders. Wenn wir uns mehr an Minderheiten orientieren, die andere Bedürfnisse haben, erreichen wir sehr viel für den Mainstream.“ Dieses Prinzip gilt sicherlich genauso für ein weiteres Problem, auf das Katja aufmerksam macht: “Menschen, die kein Auto haben, haben keine Lobby, denn sie diversifizieren ihre Mobilität: zu Fuß, mit dem Rad, mit den Öffentlichen. Daher müssen wir umso mehr diese Alternativen zum Auto stärken.“

Diversität bedeutet Erfolg, auch für Alisa, denn sie engagiert sich sowohl für die Stärkung unterschiedlicher nachhaltiger Transportmittel als auch für mehr Chancengleichheit der verschiedenen Geschlechtsidentitäten im Straßenverkehr. 

 

Alisa Raudszus
Alisa Raudszus ist hauptamtlich beim VCD, zuletzt im Projekt „Zu Fuß zur Haltestelle“ für bessere Fußwege und damit für eine Stärkung des ÖPNV. Derzeit widmet sie sich der Frage, wie die Verkehrswende sozial gerecht gestaltet werden kann. Neben ihrem Vollzeitjob steckt sie vor allem vom Jahresanfang bis zum 8. März sehr viel Zeit und Energie in ihr Ehrenamt: Die Organisation des Purple Ride, der seit zwei Jahren immer am internationalen Frauenkampftag stattfindet. 

 

Der Purple Ride (facebook.com/purplerideberlin; instagram.com/p/B9epfkkn082) entstand aus dem Wunsch, eine Alternative zur großen Berliner Critical Mass zu schaffen. „Die große CM ist total toll und es ist super, dass es sie gibt. Aber sie ist ja oft etwas mackerig und dominant. Wir wollen Raum schaffen für Frauen*, vielleicht mit Kindern, für FLINT-Personen (Frauen*, Lesben, Inter, Non-Binary und Trans* Personen), damit auch sie entspannt Fahrrad fahren können auf Berlins Straßen.“ Den Organisator*innen des Purple Ride ist eine sichere Radinfrastruktur sehr wichtig, sodass niemand Angst haben muss, zum Beispiel sexistisch beleidigt zu werden. Alisa vermutet, dass es die Erwartungshaltungen einiger Männer* nicht erfüllt, wenn Frauen* etwas rabiater oder rasanter fahren. Und wenn dieser Stereotyp der lieben netten Frau*, die sich immer an alle Regeln hält, gebrochen wird, dann führt das zu Irritationen oder sogar Aggressionen.  

Auch Lisa kennt das Problem von sexistischen Beschimpfungen und sexuell konnotierten Zurufen. „Ich habe das Gefühl, dass da schon noch so eine Art Angst dahinter steckt, die solche Aggressionen hervorbringt, wenn eine Frau* im öffentlichen Raum den Platz einnimmt, der ihr zusteht. Ich kann mir vorstellen, dass man als Mann* auf dem Rad auch angehupt und geschnitten wird. Aber diese Reduzierung auf den Körper und das Geschlecht als Grund für Beschimpfung, das erleben Männer* wahrscheinlich so nicht.“ 

 

Lisa Feitsch
Lisa Feitsch ist Presse­sprecherin des ADFC Berlin und arbeitete vorher in der Presse­stelle des VCD Bundes­verbands. Dort war sie unter anderem an der Erarbeitung eines Visionsbuchs zu lebenswerten Städten beteiligt („Mit Füßen und Pedalen – Hol dir deine Stadt zurück!“:  vcd.org/strasse-zurueckerobern/visionsbuch-mit-fuessen-und-pedalen) in dem beschrieben wird, wie Städte durch mehr Rad – und Fußverkehr lebenswerter werden können. Auch Lisa war an der Organisation des Purple Ride beteiligt. 

 

„Ich habe oft das Gefühl, Männer* denken, dass sie sich im Verkehr grundsätzlich besser auskennen. Wenn es dann doch mal zur Diskussion an der nächsten Ampel kommt, wird man schnell belehrt.“ Natürlich sieht man Lisa nicht an, dass sie beruflich mit Verkehr zu tun hat. Doch es gibt Männer*, die grundsätzlich davon ausgehen, sie wüssten mehr über ein Thema, wenn sie sich mit einer Frau* unterhalten und das scheint zumindest so verbreitet zu sein, dass dafür ein neues Wort entstand: „Mansplaining“. 

Sexismus und Chancenungleichheit zwischen den Geschlechtern gibt es natürlich in allen Bereichen, aber Radfahrer*innen bekommen dieses Problem relativ oft zu spüren, da es einerseits durch die mangelnde Infrastruktur oft zu Konflikten kommt und andererseits Frauen* auf dem Rad sehr exponiert und sichtbar sind. Daher muss sich sowohl in den Köpfen der Menschen als auch auf unseren Straßen noch viel ändern.

Lisa ist in der Stadt in einer Familie ohne Auto groß geworden: „Wir waren viel mit dem Fahrrad unterwegs und ich hatte als Kind oft Angst im Verkehr.“ Vielleicht ist sie aus diesem Grund zur Fahrradaktivistin geworden. Sie findet, eine Stadt sollte so gestaltet sein, dass Radfahren keine Mutprobe ist. 

Auch Lisa unterstreicht, dass Diversität egal in welchem Bereich, unterschiedliche Perspektiven bringt und das eben auch in der Stadt: „In den letzten Jahren haben wir sehen können, dass sich etwas geändert hat, wenn Frauen* in entsprechende Positionen kamen. Das heißt, weg von der autogerechten Stadt und hin zu lebenswerten Städten.“ Als Beispiele nennt Lisa die Pariser Bürgermeisterin Anne Hildago, die eine progressive und ökologische Verkehrspolitik in Paris vorantreibt oder Janette Sadik-Khan, die hunderte Kilometer Radwege in New York baute und den Times Square zur Fußgängerzone machte. Auch die Berliner Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz Regine Günther, findet Lisa, kann hier genannt werden. Zwar muss die Umsetzung des Mobilitätsgesetzes schneller gehen, doch ihre Ankündigung, Verbrennungsmotoren bis 2030 aus der Berliner Innenstadt zu verbannen, ist zweifellos ein guter Schritt in die richtige Richtung. 

Auch Ulla denkt mittlerweile viel darüber nach, wie schön eine Stadt ohne Autos wäre. Sie ist schon immer Radfahrerin, aber erst in den letzten Jahren zum Radaktivismus gekommen. Seitdem sieht sie die Stadt mit anderen Augen. Was früher nur ein unbestimmtes Gefühl von Stress und Unwohlsein war, ist nun einem Bewusstsein über die konkreten Probleme gewichen, aber auch einer Motivation, sich für deren Lösung einzusetzen. 

 

Ulla Kozlowski
Ulla Kozlowski ist verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als Schulhelferin in einer Grundschule in Lichtenberg und als Buchhändlerin in Moabit. Sie lebt gern in der Stadt. Als sie Mutter wurde, hat sich ihr Blick auf die Stadt noch einmal erweitert. Die Kinder wurden in einem Anhänger transportiert. „Doch es gab auch damals schon viel zu wenig kleine Oasen. Es muss nicht immer ein Spielplatz sein, aber schon ein paar Bäume, ein kleines Stück Rasen oder Blumen würden einen Unterschied machen.“

 

Als Ulla vor 20 Jahren nach Friedrichshain zog, war es dort noch entspannter: „Der Verkehr war damals noch nicht so dicht und der Kiez war weniger zugeparkt. Es kamen mit der Zeit immer mehr Autos dazu, aber an der Radinfrastruktur hat sich nichts getan. In den letzten Jahren wurde mir bewusst, wie viel Raum auf der Straße zum Parken genutzt wird.“ So kam sie auch zum Netzwerk Fahrradfreundliches Friedrichshain-Kreuzberg, kurz radxhain, einer der Bezirksgruppen von Changing Cities. Denn radxhain „besetzte“ am jährlichen Parking Day einen Parkplatz und wandelte ihn temporär in einen öffentlichen Park um. 

Es ist erstaunlich, was alles auf der Fläche eines Parkplatzes möglich ist: Ein Plausch bei Kaffee und Kuchen, eine Yogastunde und sogar ein Konzert samt Fanclub. Private Autos permanent im öffentlichen Raum abzustellen ist eine offensichtlich ungerechte Platzverteilung. Doch darüber hinaus ist es gleichzeitig auch eine ungerechte Verteilung zwischen den Geschlechtern. Denn Zahlen belegen, dass immer noch weitaus mehr Autos auf Männer* zugelassen sind und damit beanspruchen Männer* viel mehr Platz in der Stadt als Frauen*.

Hinzu kommt, dass Frauen* wie oben erwähnt mehr Care-Arbeit leisten und ihre Mobilität folglich durch mehr Wegeketten gekennzeichnet ist. Eine Lösung wäre deshalb, wieder zurück zu den Wohn- und Arbeitsquartieren zu kommen, damit die Wege zwischen Zuhause, der Arbeit, dem Supermarkt und der Kita wieder kürzer werden. 

Diese Vision von der lebenswerten Stadt teilt auch Lara. Sie betont, dass der motorisierte Verkehr sowohl ein Ressourcen- als auch ein Flächenproblem ist. „Die Fläche in der Stadt muss solidarischer verteilt werden und dafür braucht es einen anderen Straßenquerschnitt. Es fehlt Stadtgrün, wir brauchen mehr Naherholungsgebiete, mehr entsiegelte Flächen. Und zwar nicht nur für Aufenthaltsqualität, sondern auch damit wir Versickerungsfläche haben, damit die Insekten nicht aussterben, damit Ökosysteme und Binnenklima funktionieren und die Stadt sich im Sommer nicht so stark aufheizt.“

 

Lara Stjepnaovic
Lara Stjepnaovic ist in Berlin groß geworden und erlebte mit, wie der Verkehr in ihrem Wohngebiet zunehmend gefährlicher, dichter und lauter wurde. So ist auch sie von der leidtragenden Anwohnerin zur Aktivistin geworden. Sie gründete die „Initiative Autofreier Wrangelkiez“ (autofreierwrangelkiez.de) und erarbeite zusammen mit ihren Mitstreiter*innen ein autoarmes Verkehrskonzept.

 

„Ideale Mobilität bedeutet für mich eine sichere und bequeme Infrastruktur für Fuß- und Radverkehr und einen minimal nötigen möglichst elektrischen ÖPNV. In der Reihenfolge. Der private Autoverkehr muss ganz zum Schluss anstehen. Auch Elektromobilität allein ist nicht die Lösung und wenn dann nur für Wirtschaftsversorgung und mobilitätseingeschränkte Menschen.“

Da würde ihr sicherlich auch Julia zustimmen. „Meine Vision ist, dass die Stadt wie ein zweites Wohnzimmer wird!“ erklärt sie. 

 

Julia Jarass
Dr. Julia Jarass arbeitet am Institut für Verkehrs­forschung des DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.). Das Thema Mobilität findet sie besonders interessant, weil Mobilität ein essenzieller Bestandteil des Alltags ist und außerdem die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen direkt beeinflusst. Julia leitet derzeit zusammen mit Sophia Becker von der TU Berlin und dem IASS in Potsdam eine Forschungsgruppe, die sich mit der Frage beschäftigt, wie die Verkehrswende vor dem Hintergrund des Mobilitätsgesetzes gelingen kann. ​​​​​

 

Wie stellt sich also eine Frau, die in der Verkehrsforschung tätig ist, die ideale Stadt vor? „Ich finde es total wichtig, dass man sich den Raum aneignen kann, denn man identifiziert sich mehr mit etwas, wenn man es selbst gestalten kann.“ erzählt mir Julia und nennt als Beispiel ein aktuelles Forschungsprojekt an dem sie arbeitet und bei dem eine Kreuzung in Berlin temporär für den Fuß- und Radverkehr geöffnet werden soll, um den Menschen eben diese Aneignung der Straße zu ermöglichen. Wie alle Frauen, denen ich dieselbe Frage stellte, nennt auch Julia Ruhe, saubere Luft, ausreichend Grünflächen und eine aktive und für alle Menschen zugängliche Mobilität als grundlegende Voraussetzungen für Lebensqualität. Doch wie konnte es dazu kommen, dass diese Dinge, die vor nicht langer Zeit selbstverständlich waren, für Stadtbewohner*innen heute seltener Luxus sind? Hätten Frauen* Städte tatsächlich sozialer und lebenswerter geplant? Julia empfiehlt mir dazu das Buch „The Death and Life of Great American Cities” von Jane Jacobs. Die Autorin beschreibt darin, wie der Größenwahn der damaligen Architekten und Stadtplaner die lebenswerte Stadt zerstörte. Innovative Großprojekte sollten vor allem beeindrucken. Ihr Einfluss auf das alltägliche Leben in der Stadt war hingegen nebensächlich. Die Vision einer autogerechten Stadt und der egoistische Drang nach Selbstverwirklichung sowie Ruhm einiger weniger Männer zerstörte ganze Wohngebiete, trennte Nachbarschaften durch mehrspurige Autobahnen voneinander und verschwendete keinen Gedanken an Aspekte wie Aufenthaltsqualität, Gesundheit oder Gemeinschaft. Ein anderes prominentes Beispiel ist der Plan Obus in Algier, den Le Corbusier bereits in den 1930er Jahren entwickelte, der aber zum Glück nie umgesetzt wurde. Er sah Wohngebäude anstelle der Altstadt vor, über deren Dächer Autobahnen verlaufen sollten. Damit wäre den Menschen die Freiheit genommen worden, sich selbst aktiv und unabhängig zu Fuß und mit dem Rad fortzubewegen. Gerade damals, als viele Frauen* noch kein Auto hatten, machte sie die autogerechte Stadtplanung noch abhängiger von ihren Ehemännern, da ihnen eine eigene aktive Mobilität erschwert wurde. Julia erzählte mir von einer Erfahrung aus Kapstadt, wo man nach Einbruch der Dunkelheit ohne Auto besser nicht mehr das Haus verlässt: „Dort habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie unfrei ich war, wenn ich nicht einfach raus konnte und wie abhängig ich war von einem Auto bzw., dass mich jemand darin mitnimmt.“. 

Doch um besonders schwierige Bedingungen für Radfahrer*innen wiederzufinden, müssen wir nicht einmal in der Zeit zurückgehen, es reicht, das Land zu wechseln. In vielen Ländern ist Radfahren für Frauen* noch heute nicht gern gesehen oder sogar verboten. 

Safia hat türkische Wurzeln und lebt seit langer Zeit in Berlin. Sie kann viel darüber berichten, was Radfahren für Frauen* in der türkischen Kultur bedeutet.

  

Safia  Yazanoglu
Safia Yazanoglu organsierte 2019 den ersten Fancy Women Bike Ride (suslukadinlarbisikletturu.com/en) in Berlin, der gleichzeitig in mehr als 120 Städten auf der ganzen Welt stattfand. Jedes Jahr feiern Frauen* bei einer gemeinsamen Tour durch die Stadt die Freude am Radfahren. Außerdem betreut Safia Selbsthilfegruppen für benachteiligte Frauen*. Sie wurde selbst zwangsverheiratet und ließ sich scheiden, entgegen dem, was ihr von der Gesellschaft und ihren Eltern vorgeschrieben war. Sie sagt, dass sie sich nun als geschiedene Frau „mehr erlauben darf“ und sich daher auch in der Verantwortung fühlt, anderen Frauen* zu helfen.

 

Der Fancy Women Bike Ride fand erstmals 2013 in Izmir in der Türkei statt, wo die Männergesellschaft es noch heute nicht gern sieht, wenn Frauen* Rad fahren. Daher wollten die Frauen* dort explizit ihre Sichtbarkeit erhöhen und auffallen: Sie trugen bunte Haarkränze, schmückten sich mit Blumen, fuhren in Rock und High Heels. Denn auch ein zu „weibliches“ Auftreten oder sogar zur Schau stellen gilt als unangebracht.

In der türkischen Community von Berlin gab es laut Safia zumindest keine offenen Feindseligkeiten gegenüber der „Bunte Frauen Fahrradtour“, wie die Aktion auf Deutsch getauft wurde. Die Idee sorgte eher für Erstaunen, Belustigung oder Getuschel wie „Muss das sein?“ „Ist das nicht zu übertrieben?“ „Sind das etwa Feministinnen?“ Doch die Frauen* beteuerten den Männern* immer wieder: „Es ist nicht gegen euch, es ist für uns!“ Safia berichtet, dass viele Männer* die Aktion befremdlich fanden und wie immer, wenn etwas neu ist, wollten sie erstmal Grenzen aufzeigen. Doch am Ende waren einige Männer* sogar stolz auf ihre Frauen*. 150 Menschen nahmen an der Rad-Demo teil. Einige besorgten sich extra dafür ein Fahrrad und andere, vor allem ältere Frauen*, die nicht Fahrrad fahren können, begleiteten die Aktion mit sehr viel Empathie und logistischer Unterstützung. „Viele dieser Frauen* haben mir hoch und heilig geschworen, dass sie bis nächstes Jahr irgendwie Rad fahren lernen und wenn sie es nicht schaffen, dann würden sie sich eben ein Dreirad besorgen, um bei der Radtour mitzufahren!“ freut sich Safia.

Eine weitere Frau, die es sich auf die Fahne geschrieben hat, Frauen* und Fahrrad zu vereinen ist Isabell

 

Isabell Eberlein
Isabell Eberlein ist politische Radfahrerin und denkt 24 Stunden am Tag übers Radfahren nach. Sie ist beruflich in der Fahrrad­branche tätig und ehrenamtlich Vorstand bei Changing Cities sowie engagiertes Mitglied im Fahrradfreundlichen Netzwerk Friedrichshain-Kreuzberg. Diversität ist ihr Herzensthema, daher setzt sie sich für Frauenfahrradnetzwerke ein, unter anderem bei Women in Mobility (womeninmobility.de) und beim Purple Ride und gründete die Gruppe „Fahrradfrauen“ (facebook.com/groups/432786356881261).

 

„Über 75 Prozent des Personals im Non-Profit Sektor sind Frauen*, in Führungspositionen sind es aber größtenteils Männer*. In der Fahrradbranche arbeiten sogar 85 Prozent Männer*. Das heißt, du gehst auf eine Fahrradmesse und siehst nur Männer*.“ erklärt mir Isabell. „Alle Frauen*, die etwas mit Mobilität oder Feminismus machen, sollten sich vernetzen, wir müssen sichtbarer werden.“ Isabell möchte Brücken schlagen, denn Rad fahrende Frauen* sind natürlich auch untereinander sehr divers. Es gibt sportliche Radfahrer*innen, politische Radfahrer*innen, Freizeitradfahrer*innen, Mechaniker*innen und viele andere. Beispielsweise werden Frauen* im Rennsport noch immer nicht ernst genommen, sie bekommen keine Preisgelder, keine Aufmerksamkeit und dürfen bei den großen Rennen noch nicht einmal mitfahren. Diese ganzen unterschiedlichen Frauen* sollten wir zusammenzubringen und vernetzen. 

Jede der zehn Frauen fragte ich nach ihrer persönlichen Vision der idealen Stadt. Menschlichkeit, Diversität und Nachhaltigkeit waren jedes Mal die Schlüsselwörter. Das Fahrrad fördert all diese Werte. Radfahren ist Freiheit und damit Emanzipation. Und es führt zu einem besseren Leben für alle, egal welchen Geschlechts oder welcher Geschlechtsidentität.